Zusammenstellung Wahlauswertungen
Hier findet Ihr eine Sammlung von aus Sicht der SL interessanten und lesenswerten Wahlauswertungen und Wortmeldungen. Diese Zusammenstellung ist selbstverständlich nicht voll umfassend, sondern listet nur das auf, was uns in den letzten Wochen als Wortmeldung gefallen hat. Die Reihenfolge, in der wir sie aufführen, stellt keine Wertung/Rangordnung der Beiträge dar.
- Die umfassende Wahlauswertung unserer Strömung, der SL, findet Ihr hier
- Die Wahlauswertung der SL-NRW könnt Ihr hier nachlesen
- Einen lesenswerten Beschluss des Bundesausschusses der Partei DIE LINKE ist hier nachzulesen
- Eine nachdenkliche Stellungnahme des Ältestenrates der Partei DIE LINKE findet Ihr hier. (https://www.die-linke.de/partei/parteidemokratie/kommissionen/aeltestenrat/erklaerungen-und-stellungnahmen-des-aeltestenrates/detail/die-zeit-fordert-dass-wir-handeln/)
- Eine Wortmeldung von hessischen Genossinnen und Genossen – darunter einige hessische SL-Mitglieder – ist hier nachzulesen.
- Die Wahlauswertung der Bundesarbeitsgemeinschaft „Betrieb & Gewerkschaft“ hier.
Bundestags-Wahlergebnis ist historische Zäsur – jetzt umsteuern!
Das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 ist für die Partei DIE LINKE katastrophal. Wir haben absolut rund 2 Millionen Wählerstimmen verloren und nur durch drei knapp errungene Direktmandate konnte ein Einzug in den Bundestag mit einer Fraktion erneut erreicht werden. DIE LINKE hat sich gegenüber 2017 flächendeckend in Ost wie West nahezu halbiert, gegenüber 2009 ist sie auf unter 40 Prozent ihrer damaligen Stimmen zurückgefallen. Dagegen konnte die SPD, die noch vor wenigen Monaten in Umfragen bei 15 bis 16 Prozent vor sich hindümpelte, sowohl die GRÜNEN als auch die Laschet-Union auf den letzten Metern abhängen und uns dabei noch über 600.000 Stimmen abnehmen
Sicher gab es eine Reihe von externen Faktoren und Konstellationen, die für DIE LINKE nicht günstig waren: Von der Fokussierung auf die Kanzlernachfolge und dem Kopf-an Kopf-Rennen zwischen Laschet und Scholz, bis hin zur Coronakrise, bei der wir als Opposition wenig wahrnehmbar waren, weil der Umgang damit unsere Partei und Wählerschaft gespalten hat. Trotzdem sind wir weit unter unseren Möglichkeiten geblieben und müssen die Hauptgründe bei uns selbst und nicht in den Umständen suchen. Ein Weiter-So darf es organisatorisch, strukturell und strategisch nicht geben! Eines ist sicher: Als Reaktion auf den Wahlausgang brauchen wir gewiss kein neues Parteiprogramm.
Regieren von Links geht nur, wenn die Verhältnisse dafür sprechen
Der Wahlkampf der LINKEN war über Monate durch die Aussage „CDU raus aus der Regierung“ (später dann „LINKE statt Lindner“) geprägt. Dies war einerseits richtig, denn nach 16 Jahren Stillstand unter Merkel war der Wunsch nach einem Regierungs- und Politikwechsel übermächtig. Gleichzeitig haben wir mit der Orientierung auf einen „Lagerwahlkampf“ die Illusion geschürt, dass „JETZT“ ein Politikwechsel mit SPD und GRÜNEN möglich sei. Dies trug dazu bei, dass viele, die uns nahestehen, am Ende aus taktischen Gründen SPD oder GRÜNE (oder aus Enttäuschung, dass wir uns diesen Parteien derart angedient haben gar nicht mehr oder sonstige Parteien) gewählt haben. Die Wahrheit ist: Weder SPD noch GRÜNE waren zu einer Koalition mit der LINKEN bereit, denn sie wollen Konflikte mit dem Kapital und anderen mächtigen Interessengruppen möglichst vermeiden.
In einer Koalition mit der LINKEN hätten sie keine billige Ausrede mehr, weshalb sie die relativ progressiven Forderungen ihrer Wahlprogramme – Vermögensteuer und höherer Spitzensteuersatz, Bürgerversicherung, bessere soziale Regulierung der Arbeitsverhältnisse – „leider“ doch nicht umsetzen. Auch an der Politik der Konfrontation und Aufrüstung gegenüber Russland und China halten sie fest und wollen sogar weiterhin bei US-geführten Kriegen mitschießen können. Aus beiden Gründen haben sie die lächerliche Forderung an DIE LINKE nach einem „Bekenntnis zur NATO“ zur Koalitionsfrage hochstilisiert. Vor diesem Hintergrund wäre eine offensivere Auseinandersetzung und Kritik mit SPD und GRÜNEN im Wahlkampf nötig gewesen. Auch wer RGR will muss Gründe aufzeigen, warum DIE LINKE und eben nicht die anderen Parteien gewählt werden müssen.
„Rebellisches Regieren“ funktioniert nur, wenn es mehr Dynamik hierfür in der Gesellschaft gibt und wir offensiv öffentliche Unterstützung für unsere Positionen mobilisieren – auch in Abgrenzung von potenziellen Koalitionspartnern. Das fängt im Wahlkampf an, der eher handzahm geführt wurde und bei dem wir die Schnittmengen zwischen uns und SPD und GRÜNEN in den Vordergrund gestellt haben. Selbst da, wo es relativ leicht gewesen wäre zu punkten, hat DIE LINKE sich entweder nicht getraut oder keine guten Strategien angewandt: So hatte Olaf Scholz bereits im Wahlkampf durchsickern lassen, dass er zügig zur Schuldenbremse zurückkehren und zudem gar keine Vermögenssteuer wolle – warum haben wir das nicht stärker skandalisiert? Auch die Verwicklung von Olaf Scholz in verschiedene Finanzskandale (Cum Ex in Hamburg, Geldwäsche) hätten wir stärker zum Thema machen und mit unserer Aufklärungsarbeit in Sachen Lobbyismus und Korruption bei breiten Schichten der Bevölkerung punkten können. DIE LINKE hat auch zu wenig darum gekämpft, Gewerkschafter und Beschäftigte für sich zu gewinnen. Und statt ausgerechnet in der Friedenspolitik – einem Alleinstellungsmerkmal der LINKEN – weitreichende Kompromisse anzudeuten hätten wir von SPD und GRÜNE als Parteien, die den desaströsen Einsatz in Afghanistan begonnen und mitgetragen haben, offensiver einen Kurswechsel einfordern können und müssen. Von den auf https://nie-wieder-krieg.org/ formulierten Positionen und Argumenten war im Wahlkampf entgegen eines ausdrücklichen mit breiter Mehrheit beschlossenen Parteitagsauftrags wenig zu bemerken.
Eine Partei (nur noch) für Akademiker:innen?
Einige Genoss:innen äußerten in den letzten Tagen verwundert, dass wir wohl doch nicht so viele Stammwähler:innen hätten wie angenommen. Wir sagen: wir hatten mal mehr Stammwähler:innen, haben diese aber verloren. Die Zahlen sprechen für sich: DIE LINKE hat besonders stark bei weniger Gebildeten, bei Erwerbstätigen und bei Rentner:innen sowie in der Fläche (v.a. in Ostdeutschland) verloren. Bei der Kerngruppe der Erwerbstätigen hat sie ihren Stimmenanteil gegenüber 2017 halbiert, gegenüber 2009 nahezu gedrittelt, und liegt unter fünf Prozent. Unter Gewerkschaftsmitgliedern hat sie sich ebenfalls fast halbiert gegenüber 2017 und liegt hinter FDP und AFD bei gerade mal 6,6% Zuspruch. Für eine sozialistische Partei, die den Anspruch hat, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu vertreten, ist das ein Armutszeugnis. Ebenso sieht es bei der zahlenstarken Gruppe der Rentner:innen aus. Noch krasser stellt sich der Absturz dar, wenn die Bevölkerung ohne Hochschulberechtigung betrachtet wird: Hier liegt DIE LINKE mit um die drei Prozent auf dem Niveau einer Splitterpartei.
Die faktische politische Ausrichtung der LINKEN auf die Jüngeren und höher Gebildeten, die sich vor allem in Universitätsstädten konzentrieren, ist wahlpolitisch gescheitert. Selbstverständlich sind neue (junge) Mitglieder willkommen und wir freuen uns sehr darüber, dass die LINKE für viele junge Leute attraktiver geworden ist. Wir wollen uns gerne zusammen mit ihnen für eine starke und eigenständige LINKE einsetzen. Aber: Wenn über 60 Prozent der Wahlberechtigten und wahrscheinlich fast zwei Drittel der Wählenden über 50 Jahre alt sind, muss diesen Gruppen eine zentrale Aufmerksamkeit gelten.
Es kann auch keineswegs davon ausgegangen werden, dass wer in der Jugend mal links gewählt hat, dies später weiterhin tun wird. Die aktivistischen linken Milieus in den größeren Städten, in denen DIE LINKE sich stärker verankert hat, machen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung aus und strahlen auch nur begrenzt aus. Zudem sind diese Gruppen wahlpolitisch höchst unzuverlässig, die höher Gebildeten und die Jüngeren haben weitaus stärker sonstige Parteien als DIE LINKE gewählt. Auch bei den schulisch höher und akademisch Qualifizierten hat DIE LINKE um vier bis fünf Prozentpunkte verloren, auch bei den Unter-30-Jährigen hat DIE LINKE deutliche Verluste zu verzeichnen (hier sank unser Ergebnis von 11 auf 8 Prozent).
Soziales Profil weiter schärfen, populär Politik machen
DIE LINKE hat zwar im Wahlkampf viele soziale Themen angesprochen. Trotzdem ist es der SPD durch Fokussierung auf wenige Forderungen (Mindestlohn von 12 Euro, Wohnungsbau) besser gelungen, möglichen Wähler:innen deutlich zu machen, für was sie steht und was sie konkret erreichen will. Ihre mögliche Achillesferse mangelnder Glaubwürdigkeit wurde von uns nicht angegangen. Dagegen ist unser Profil in den vergangenen Jahren zunehmend unscharf geworden. Für eine starke LINKE ist es nötig, dass die Partei ihr Profil klärt und stets deutlich macht, dass sie eine konsequente Interessenvertretung der Arbeitenden und sozial benachteiligten Mehrheit der Bevölkerung ist. Dazu gehören selbstverständlich Menschen jeglichen Geschlechts und sexueller Orientierung und in zunehmendem Maße Menschen mit Migrationsgeschichte.
Es ist auch unumgänglich, dass unsere Partei neben der Sprache der Akademiker:innen auch wieder lernt die Sprache der Familien und Pausenecken, der Stammtische und Kneipentheken zu sprechen. Wir müssen so frei nach Schnauze reden und es akzeptieren, wie es die Menschen tun, für die wir Politik machen und deren Köpfe und Herzen wir ansprechen wollen. DIE LINKE muss verständlich und offen, einladend und expansiv sein, bereit und fähig zum Gespräch, nicht abstoßend, abgrenzend und verschreckend.
Die Interessen der Mehrheit in den Mittelpunkt stellen
In den letzten Jahren haben sich problematische Entwicklungen verschärft fortgesetzt, die bereits das vergangene Jahrzehnt zunehmend geprägt haben. Zunehmend erscheint DIE LINKE vielen als eine politische Kraft, die vor allem Anliegen kleiner linker und Bewegungs-Milieus in größeren Städten und dabei einseitige und/oder überzogene Positionen vertritt. Eine Verankerung in den Lebenswelten der „einfachen Leute“, der Berufstätigen und Familien, der „Normalos“, die hauptsächlich andere Probleme und Aktivitäten haben als politische im engeren Sinne, gibt es immer weniger. Das entspricht in diesen Städten in zunehmendem Maße auch der Zusammensetzung und den Prioritäten der Aktiven. Viele v.a. der in den letzten Jahren neu hinzugekommenen Mitglieder und Aktiven kommen aus studentischen oder „Szene“-Milieus und haben wenig Bezug zu Alltagsproblemen von breiten Schichten der Bevölkerung.
Wir möchten diese neuen aber auch alle anderen Genoss:innen davon überzeugen, dass wir eine sozialistische Massenpartei brauchen, die in der arbeitenden Klasse, den breiten Schichten des Volkes, in Stadt und Land, bei Jung und Alt, bei allen Geschlechtern, bei Einheimischen wie Eingewanderten verankert ist. Um diesem Ziel näher zu kommen, muss DIE LINKE verbindend und vereinheitlichend wirken – über kulturelle und Differenzen in einzelnen politischen Haltungen hinweg. Wirklich verbindende Klassenpolitik bedeutet die Betonung der gemeinsamen Interessen im Sinne der Solidarität und gleichen Rechte und Chancen aller hier lebenden Menschen, der ökologischen Nachhaltigkeit, des Friedens und der internationalen Zusammenarbeit. Und gegen die alltäglichen Zumutungen und die Politik des Kapitals und der Superreichen, gegen Rassismus, Sexismus, Kriminalität und Gewalt. Das Aufeinandertürmen von Maximalforderungen aus allen Einzelgruppen und Bewegungen verbunden mit der Anforderung, alle müssten immer alle diese Positionen vertreten und wer dies nicht tut, darf nicht dabei sein, erschwert die Bildung breiter Bündnisse, starker Bewegungen und einer erfolgreichen LINKEN.
Wir sollten in Zukunft auf schädliche Versuche von „Klärungen“ bei inhaltlichen Fragen verzichten, über die es grundlegend unterschiedliche Auffassungen gibt und die zugleich realpolitisch überhaupt nicht zur Entscheidung anstehen (wie beim bedingungslosen Grundeinkommen oder der Frage von „offenen Grenzen für alle“ oder wie ein künftiges Verhältnis von Nationalstaaten und EU aussehen soll).
Für eine andere Parteikultur – Sektierertum bekämpfen
Der Streit zwischen Partei- und Fraktionsführung in den vergangenen Jahren hat uns schwer geschadet. Neue oder potenzielle Mitglieder werden regelrecht abgeschreckt von der Härte und Vehemenz, mit der bis in Ortsverbände hinein gestritten wird über Fragen, die mit ihrer Lebensrealität oft wenig zu tun haben.
DIE LINKE darf sich und erst recht ihre Wähler:innenschaft nicht auf aktivistische und radikale Kerne verengen, sondern muss möglichst viele „normale“ Menschen ansprechen und für Unterstützung und Mitarbeit gewinnen. Dazu braucht es auch populäre Persönlichkeiten, die in Talkshows ein Millionenpublikum erreichen und eine konstruktive Zusammenarbeit der verschiedenen Kräfte in unserer Partei.
Natürlich wird Politik nicht nur – nicht einmal in erster Linie – in Parlamenten oder Talkshows gemacht und natürlich ist und bleibt die LINKE Partner von vielen sozialen Bewegungen. Sie muss aber mehr sein als der verlängerte parlamentarische Arm dieser Bewegungen. Wir dürfen nicht nur die Aktiven repräsentieren, sondern auch die Passiven, vor allem die Frustrierten und Schweigenden. So richtig es ist, Menschen zu ermutigen, für ihre Interessen zu kämpfen – DIE LINKE muss eine Stimme auch für all diejenigen sein, die nicht für sich selbst kämpfen können oder wollen.
DIE LINKE muss eine Partei sein, in der auch Menschen aktiv sein und Funktionen und Mandate übernehmen können, deren Leben nicht primär aus politischer Aktivität besteht, sondern für die Arbeit, Familie oder auch andere Tätigkeiten wichtiger sind. Sie braucht eine Verankerung in und Verbindung zu all den Bereichen, in denen die Menschen tätig sind: Betriebe, Bildungseinrichtungen, Initiativen und Bewegungen, Verbänden, örtlichen Vereinen usw. Sie muss eine Parteikultur entwickeln, die neben inhaltlichen Debatten und „Sitzungssozialismus“ Aktionen durchführt, an denen sich viele beteiligen können und die auch Möglichkeiten für Geselligkeit bietet.
Um mehr Erwerbstätige als Mitglieder zu gewinnen, muss außerdem die Beitragstabelle überarbeitet bzw. die Mitgliedsbeiträge für Gering- und Normalverdiener gesenkt werden.
Wie kann es sein, dass am vergangenen Sonntag 320.000 Wähler:innen, die zuletzt uns ihre Stimme gegeben hatten, zuhause geblieben sind und gar nicht gewählt haben? Wir müssen dafür die Gründe in Erfahrung bringen. Die Partei sollte deswegen eine unabhängige (!) Studie in Auftrag geben, die uns mehr über die Bewegründe der Menschen verrät, die sich von uns in den letzten Jahren seit 2009 oder 2013 abgewendet haben (Als SL hatten wir vor anderthalb Jahren einen Antrag eines Genossens im Parteivorstand unterstützt, eine ähnliche Studie zu erstellen, was leider abgelehnt wurde). Niemand darf für uns „verloren“ sein oder abgeschrieben werden. Um die Nicht-Wähler:innen müssen wir mindestens genauso kämpfen, wie um jede andere Gruppe.
Persönlichkeiten zählen
70 Prozent der Wähler:innen sind nach Umfragen von Infratest dimap am Wahltag der Ansicht, dass die LINKE „keine überzeugenden Führungspersonen mehr“ habe. Wir sollten dieses Urteil ohne gegenseitige Schuldzuweisungen zur Kenntnis nehmen und ehrlich zum Gegenstand der internen Aufarbeitung machen. DIE LINKE verfügt nur über wenige starke und bekannte Personen, es wurden auch keine aufgebaut. Janine Wissler hat sich im Wahlkampf und den Talkshows gut geschlagen und wichtige Punkte gesetzt. Die neuen Vorsitzenden waren bundesweit aber (noch) nicht sehr bekannt und waren bzw. wurden auf öffentliche Auftritte in Talkshows teilweise nicht genug vorbereitet. Umso mehr hat vor allem der öffentlich ausgetragene Konflikt der letzten Jahre mit und um Sahra Wagenknecht viele Sympathisant:innen irritiert und uns schwer geschadet. Dabei sehen wir, dass Sahras Äußerungen und Publikationen zur Zuspitzung der Konflikte beigetragen haben und dass es eine Teilgruppe von Wähler:innen gibt, die deswegen DIE LINKE nicht gewählt haben. Dennoch gilt unseres Erachtens für die Gesamtbevölkerung, dass Sahra in einer herausgehoben Position uns mit Sicherheit mehr Stimmen gebracht als sie uns auf der anderen Seite gekostet hätte.
2017 hat DIE LINKE mit Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch als Spitzenkandidaten das zweitbeste Wahlergebnis für DIE LINKE erzielt. Im Ranking der beliebtesten Politikerinnen Deutschlands bei Intratest Dimap landete Sahra Wagenknecht im Wahljahr 2017 regelmäßig unter den Top10. Zwei Jahre nach der Wahl, 2019, überholte sie sogar in einer Umfrage die Bundeskanzlerin und war die beliebteste Politikerin Deutschlands. Wenn wir immer wieder durch Angriffe auf sie auffallen, müssen wir uns nicht wundern, wenn die Popularität der Partei darunter leidet.
Obwohl sich die AfD 2017 als (vermeintliche) Protestpartei etablieren konnte, gelang es in diesem Jahr, insbesondere aus dem Nichtwählerspektrum (+270.000) und der SPD-Wählerschaft (+430.000) für DIE LINKE zu gewinnen. 2021 hat DIE LINKE über 600.000 Stimmen per Saldo an die SPD und 320.000 an die Nichtwähler verloren.
Auseinandersetzungen zwischen Personen und Parteiflügeln um den richtigen Kurs gibt es in nahezu jeder Partei. Doch diese müssen auf eine Weise geführt werden, die nicht ausgrenzt und spaltet und die auf persönliche Angriffe und Diffamierungen verzichtet. Wir setzen uns dafür ein, hier einen Neuanfang zu starten und ungeachtet politischer Differenzen in einzelnen Punkten respektvoll und konstruktiv zusammenzuarbeiten und dies vor allem auch öffentlich zu demonstrieren.
Kompetenzverlust eindämmen
Warum hat DIE LINKE so schlecht abgeschnitten, obwohl soziale Gerechtigkeit und Sicherheit die Themen waren, die bei der Bundestagswahl 2021 am Ende für die meisten Wähler:innen ausschlaggebend waren? Wie Umfragen belegen, wird uns auf diesen zentralen Feldern immer weniger Kompetenz zugeschrieben. Dagegen erreichte DIE LINKE 2017 mit Sahra Wagenknecht an der Spitze hohe Kompetenzwerte.
Wir haben nicht allzu viele Politiker:innen, die über hohe Fachkompetenz verfügen und damit auch öffentlichkeitswirksam punkten können. Dass Fabio De Masi nicht erneut für DIE LINKE antrat oder Sabine Zimmermann nicht mehr im Bundestag vertreten ist, sind herbe Verluste für DIE LINKE.
DIE LINKE muss dem Aufbau von Kompetenzen und der politischen Bildung mehr Gewicht geben. Leistung muss sich lohnen – auch bei uns. Wenn DIE LINKE in der aktuellen Situation einen „Brain Drain“ vermeiden will, muss sie alles daransetzen, dass jene „Kader“, die über langjährige politische Erfahrung und/oder Fachwissen verfügen, bei uns eine Perspektive sehen.
Allzu oft werden Stellen in unseren „Apparaten“ bei Partei, Stiftung und Fraktion nicht nach Leistung und Kompetenz, sondern nach Zugehörigkeit zu entsprechenden „Seilschaften“ besetzt. Eine Ausgrenzung von Anhänger:innen marxistisch orientierter Strömungen wie der Sozialistischen Linken oder auch der KPF und die weitere Vernachlässigung politischer Bildungsangebote für Menschen ohne Hochschulabschluss kann sich die Partei und darf sich die RLS nicht länger leisten.
Wir brauchen mehr Wertschätzung auch für die ehrenamtliche Arbeit, die in Kreisverbänden, Parteigremien, aber auch Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Vereinen und Initiativen geleistet wird – all diese „Aktiven an der Basis“ müssen systematischer in die politische Willensbindung und demokratische Entscheidungsfindung der Partei einbezogen werden.
Parteitage sollten daher nicht von Mandatsträger:innen und bezahlten Mitarbeiter:innen aus Partei, Fraktion oder Stiftung dominiert werden, wenn sich kollektive Vernunft durchsetzen soll – hier wie bei der Besetzung von Vorständen – muss über eine Quotierung zugunsten der ehrenamtlich tätigen Mitglieder nachgedacht werden.
Ohne Frieden ist alles nichts
Ausgrenzung und diffamierende Angriffe haben sich in den letzten Jahren nicht nur gegen Sahra Wagenknecht gerichtet. Immer wieder gerieten auch Genoss:innen ins Visier, die in Fragen der Friedenspolitik konsequente Positionen vertreten, auf die Heuchelei des Westens in Fragen der Menschenrechte aufmerksam gemacht bzw. der öffentlichen Stimmungsmache gegen Länder wie Russland oder China etwas entgegengesetzt haben. Nicht alle müssen die Positionen von Alexander Neu, Andrej Hunko, Heike Hänsel, Diether Dehm u.a. teilen, aber es gehört zu einer solidarischen Parteikultur, sich sachlich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen und diffamierende Angriffe und Begriffe (Putinfreunde, Verschwörungstheoretiker, Antisemiten, Coronaleugner, Rassisten, AFD-nah u.ä.) zurückzuweisen.
Dass einzelne Genoss:innen im Wahlkampf Signale gesendet haben, dass wir unsere im Parteiprogramm verankerten Positionen auch über Bord werfen können, um mit SPD und GRÜNEN eine Regierung bilden zu können, hat vermutlich nicht nur einige Stammwähler:innen verprellt.
Gerade in der Außenpolitik muss DIE LINKE selbstbewusst und offensiv auch Positionen vertreten, die gegen den Strom sind, sie muss medialen Gegenwind aushalten, der gerade in Zeiten, in denen sich Konflikte kriegerisch zuspitzen (können) besonders heftig weht.
Allerdings müssen wir auch selbstkritisch sein: vieles was für Menschen, die politisch in den 60er, 70er, 80er Jahren und auch später sozialisiert worden sind, außenpolitisches Grundwissen war, ist der Generation der unter 40 jährigen nicht mehr bekannt. Wir haben seit der Parteigründung 2007 versäumt, hier systematisch Wissen zu vermitteln.
Fazit
„Hoffnung ist wie ein Pfad. Am Anfang existiert er noch nicht, er entsteht erst, wenn viele Menschen den gleichen Weg gehen.“ (Lu Xun)
Im recht wahrscheinlichen Fall einer Ampelkoalition stehen die Chancen für DIE LINKE gut, Wähler:innen von SPD & Grünen zurückzugewinnen. Denn: Die kommenden Jahre werden von verschärften Verteilungsauseinandersetzungen geprägt sein. Die Steuerausfälle, die Kosten der Corona-Krise und der anstehenden beschleunigten Reduzierung der CO2-Freisetzung (Dekarbonisierung) werden immer wieder zwei Alternativen präsentieren: höhere Steuern (aber mit der FDP, CDU und Scholz sicher nicht für Superreiche) oder Ausgabenkürzungen. Die Abschaffung oder grundlegende Einschränkung der schädlichen Schuldenbremse wird nämlich auch Zukunft keine Mehrheit haben. Leider. Für dringend nötige Investitionen in die soziale Infrastruktur (d.h. mehr Personal in Krankenhäusern & Pflege, Schulen & Kitas, bezahlbare Wohnungen, ÖPNV usw. usf.) wird kein oder viel zu wenig Geld (ggf. über Investitionsgesellschaften) da sein.
Ökologischer Umbau wird zu neuen sozialen Ausgrenzungen/Belastungen für die normalen Bürger:innen führen. Hier darf DIE LINKE die herrschende Politik nicht nur wegen ihrer ökologischen Unzulänglichkeit kritisieren (das auch), sondern muss vor allem die Anforderung der sozialen Gestaltung in den Vordergrund stellen – und ihre Eigenständigkeit betonen. Das bedeutet also: den Schutz oder angemessenen Ersatz für verloren gehende Arbeitsplätze und Ausgleich finanzieller Belastungen besonders für Menschen mit niedrigen Einkommen und mit unvermeidlichen Mehrausgaben in den Vordergrund stellen. Der Umbau darf nicht den Einzelnen aufgelastet oder dem Markt überlassen werden, sondern erfordert einen demokratisch gesteuerten Umbau von Produktion und Infrastrukturen. Dazu gehört auch die Stärkung der Gewerkschaften und der Tarifverträge.
Gleichzeitig werden die Rentenversicherung sowie die Kranken- und die Pflegeversicherung zunehmende Aufwendungen erfordern, zumal als sozialer Sicht höhere Renten und bessere Leistungen der Pflegeversicherung erforderlich sind. Vor diesem Hintergrund ist eine erneute neoliberale Offensive für die Begrenzung und Privatisierung von Leistungen und Beitragsätzen sowie eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters zu erwarten. Diskussionen hierzu haben ja schon begonnen. Hier kann und muss sich DIE LINKE als konsequent soziale Kraft profilieren, die für Verbesserungen statt Abbau von Leistungen, die Einbeziehung aller in die gesetzlichen Sozialversicherungen und für gerechte Finanzierung eintritt. Sie muss dazu auch ihre Argumentationsfähigkeit bzw. die ihrer Mitglieder stärken.
Eine klare Gegenposition muss DIE LINKE zur Politik der Konfrontation und Aufrüstung einnehmen, die die USA und die EU gegen Russland und China betreiben. Stattdessen muss sie entschieden für Frieden und Entspannung, Abrüstung und internationale Zusammenarbeit zur Bewältigung der globalen Probleme (Klimawandel und Zerstörung von natürlichen Lebensgrundlagen, Armut und Unterentwicklung, Kriege und Bürgerkriege, Vertreibung und Flucht) eintreten. Sie muss die Heuchelei und Doppelstandards der westlichen Politik angreifen, die von Menschenrechten redet, aber in Wirklichkeit wirtschaftliche und geopolitische Dominanzinteressen vertritt. Militärinterventionen müssen weiter konsequent abgelehnt werden. Es muss hier darum gehen, am Aufbau einer wieder starken Friedensbewegung mitzuwirken und politischen Druck für eine friedliche und solidarische Außenpolitik Deutschlands und der EU zu entwickeln.
Wenn wir uns jetzt nicht zerlegen und die richtigen Schwerpunkte setzen, werden wir wieder an Zuspruch gewinnen können. Was die lokale Verankerung betrifft, können und sollten wir von der erfolgreichen Wahlkreisarbeit von Sören Pellmann, Gesine Lötzsch und Gregor Gysi lernen. Und von den Genoss:innen der KPÖ in Graz, die ihr Motto „helfen statt reden“ über viele Jahre vorgelebt und so die Stadtratswahl mit 29 Prozent gewonnen haben. Auch von unserer belgischen Schwesterpartei PTB können wir viel über klassenpolitische, populäre Ansätze lernen. Gleichzeitig werden wir diskutieren müssen, wie wir unsere Interessenvertretungs- und Reformpolitik im Kapitalismus und für eine sozial-ökologische Transformation überzeugender als bisher verbinden mit marxistisch fundierter Kapitalismuskritik und mit einer übergreifenden Erzählung. Der Erzählung vom Kampf für den Aufbau einer besseren, menschlicheren, demokratisch-sozialistischen Gesellschaft, die die Ausbeutung von Mensch und Natur überwindet.
SL NRW zur Bundestagswahl
Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch an unsere (wieder-) gewählten Bundestags-Abgeordneten aus NRW: Sahra Wagenknecht, Matthias W. Birkwald, Sevim Dagdelen, Andrej Hunko und Kathrin Vogler haben den Wiedereinzug geschafft und unser Landessprecher Christian Leye ist neu in den Bundestag eingezogen. Wir sind sicher, sie alle werden die Interessen der nordrhein-westfälischen Lohnabhängigen und sozial Ausgegrenzten sowie des LINKEN-Landesverbands NRW in Fraktion und Parlament engagiert und wirksam vertreten.
Unser Dank gilt auch den in Folge des katastrophalen Wahlergebnisses beim Bundestagseinzug gescheiterten Kandidat:innen, die sich kämpferisch in den Wahlkampf eingebracht haben. Stellvertretend für sie alle seien hier die Kandidat:innen auf den Listenplätzen 7. – 12. genannt:
Ulrike Eifler hätte gewerkschaftlich orientierte Politik in der Fraktion endlich stärker verankert. Alexander S. Neu hätte seine konsequente Friedenspolitik fortgeführt. Britta Pietsch hätte dem Pflegepersonal endlich eine Stimme im Parlament gegeben. Friedrich Straetmanns hätte seine wichtige Arbeit als rechtspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion fortsetzen können. Ezgi Güyildar wollte ihr antifaschistisches Engagement nun im Parlament weiterführen. Und Shoan Vaisi konnte schon während des Wahlkampfes zeigen, welche öffentliche Aufmerksamkeit die Stimme eines Geflüchteten im Bundestag hätte erzielen können. Ironie der Geschichte: „Dank“ des Wahlergebnisses können Ulrike Eifler und Britta Pietsch ihre wichtige Arbeit als Stellvertretende Landessprecherinnen ebenso engagiert wie bisher weiterführen.
Erinnert sei an dieser Stelle auch noch einmal an die kurz vor dem Ende der Legislaturperiode verstorbene verkehrspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Ingrid Remmers, die von 2007 bis zu ihrem Tod dem Landessprecher:innenrat der Sozialistischen Linken NRW angehörte.
Nicht „Weiter so“ nach der Bundestagswahl – aber wie dann?
Dass das Wahlergebnis für DIE LINKE katastrophal ist, wurde bereits vielfach festgestellt. Wir haben im Vergleich zu 2017 bundesweit ebenso wie in NRW gut die Hälfte der Stimmen verloren. Mit einem tiefblauen Auge sind wir noch einmal davon gekommen und haben weiterhin eine Fraktion im deutschen Bundestag. Ein deutliches Warnzeichen ist die Tatsache, dass wir als sozialistische Partei mit 5 Prozent den geringsten Anteil an Wähler:innen unter den Arbeiter:innen haben. DIE LINKE hat gerade auch auf dem Gebiet ihrer Gründungs- und Kernkompetenz – der sozialen Gerechtigkeit – und bei den arbeitenden Menschen und Gewerkschafter:innen in massiver Weise verloren.
Die öffentlichen Reaktionen unserer Parteiführung reichen von „notwendiger gründlicher Analyse des miserablen Wahlergebnisses“ über „So kann es nicht weitergehen“ bis „DIE LINKE muss sich neu erfinden“. Eine genauere Ursachenanalyse ist sicherlich notwendig. Eine gute Grundlage hierfür liefert die Stellungnahme des Bundessprecher:innenrats der Sozialistischen Linken.
Wie können wir in NRW wieder nach vorn kommen?
Deshalb nur ganz kurz: Die Ursachen für derart massive Stimmenverluste sind vielfältig und lassen sich nicht allein auf die letzten Monate vor der Wahl reduzieren, sondern reichen viel weiter – wahrscheinlich sogar bis zum Göttinger Parteitag 2012 – zurück. Einzelne Kritikpunkte willkürlich herauszugreifen und diese dann auch noch zu personalisieren, halten wir für den falschen Weg. Die Schuldfrage in den Mittelpunkt zu rücken und einzelne Personen oder Vorstandsmehrheiten haftbar zu machen, wäre aus unserer Sicht schon deshalb unsinnig, weil die Mehrheitsverhältnisse im Parteivorstand völlig konträr zu denen im Landesvorstand NRW sind:
Die Verluste in NRW und im Bund unterscheiden sich aber nicht nennenswert voneinander. NRW hat zwar einen der „Spitzenplätze“ bei den Verlusten unter den westdeutschen Flächenländern, liegt aber um einiges unter den Verlusten im Bundesdurchschnitt. Nicht einzelne Personen oder bestimmte Gruppierungen haben die Wahl verloren, sondern wir alle!
Schon seit März 2020 lagen alle Wahlumfragen für DIE LINKE bei nur 6 – 8 Prozent: mit stetig fallender Tendenz. Nur der letzte heftige Knick von 6 Prozent auf knapp unter 5 Prozent lässt sich mit kurzfristigeren Entwicklungen erklären. In den letzten Wahlkampfwochen kam als letzter Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, das Kanzlerkandidaten-Spektakel hinzu.
Vielfältige Reaktionen an den Wahlkampfständen haben gezeigt, dass viele uns Wohlgesinnte, die uns zuvor gewählt hatten, diesmal taktisch die SPD wählen würden, um den Kasper Laschet zu verhindern. In den Monaten zuvor war es aber für das öffentliche und veröffentlichte Bild der NRW-LINKEN sicherlich wenig werbewirksam, dass es seit September 2020 immer wieder von Neuem zu harten Angriffen über die bürgerlichen und sozialen Medien auf den NRW-Landesverband kam.
Insbesondere die seit April 2021 extrem hart geführte Auseinandersetzung um Sahra Wagenknecht dürfte uns Stimmen gekostet haben – in beide Richtungen: Sowohl Menschen, die Wagenknecht schätzen, als auch ihre Kritiker:innen aus diversen Spektren wurden so aus unserem Wähler:innenspektrum davongetrieben. Obendrein hat uns diese Auseinandersetzung gerade in NRW viel Zeit und Kraft gekostet, die wir für die Intensivierung landesspezifischer Schwerpunkte im Wahlkampf weit besser hätten gebrauchen können.
Wenn wir in NRW wirklich ernsthaft daran arbeiten wollen, im kommenden Jahr in den Landtag einzuziehen, dann sollten wir die richtigen Lehren aus diesem Bundestagswahlkampf ziehen. „Es kann nicht so weitergehen“, kann dann für uns nur heißen, nicht die Differenzen zwischen Strömungen und den Kampf um die jeweiligen „einzig wahren“ Positionen in den Vordergrund zu stellen. Denn als Sozialist:innen adressieren wir mit unseren Forderungen nicht Personen, sondern die Verhältnisse, die dazu führen, dass Menschen in Armut leben, unsichere Lebensperspektiven haben und dass ökologische Katastrophen drohen. Deshalb lasst uns streiten über die Dynamik von Klassenverhältnissen in der sozial-ökologischen Transformation, wie sie uns nach der Wahl auch in NRW droht: Für GroKo, Ampel oder Schwampel lautet die Antwort auf die Frage „Wer zahlt für die Krise?“ doch ganz einfach: „Die, die schon immer gezahlt haben!“
Für uns muss die Frage aber lauten: Wie könnte eine sozial-ökologische Transformation von unten aussehen? Und vor allem: Mit wem wollen wir unsere Forderungen durchsetzen? Dabei ist der Verweis auf soziale Bewegungen, so notwendig sie auch sind, nicht ausreichend und ersetzt keine politische Strategie, deren Ziel der Wiedereinzug ins Landesparlament ist. Hierzu braucht es eine breitere gesellschaftliche Verankerung, insbesondere in den Gewerkschaften.
Wir haben die Chance, den Einzug in den Landtag NRW zu schaffen …
… und damit DIE LINKE auch bundesweit wieder stärker in der Gesellschaft zu verankern!
Zum einen, weil bis zur NRW-Landtagswahl erkennbar werden wird, welche Zumutungen ein Regierungsprogramm der neuen Koalition im Bund beinhalten wird, insbesondere für die Lohnabhängigen und die ohnehin sozial Ausgegrenzten. Bis dahin muss aber auch unsere Gründungs- und Kernkompetenz – die soziale Gerechtigkeit – wieder entschieden deutlicher sichtbar werden.
Zum zweiten, wenn es uns gelingt, ein stärkeres landespolitisches Profil zu entwickeln.
Und zum dritten, wenn wir endlich damit aufhören, uns permanent gegenseitig zu bekämpfen und zu blockieren, und es uns gelingt, den Pluralismus, die Vielfältigkeit unserer Partei endlich schöpferisch und werbewirksam nach außen wirksam werden zu lassen.
Wege aus der Krise –wie weiter nach der Bundestagswahl?
Beschluss des Bundesausschusses vom 10. Oktober 2021
Mit der Gründung der Partei die LINKE entstand 2007 eine bundesweite linke Partei, mit der viele Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik ihre Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit und Frieden in der Welt verbanden. Eine einmalige historische Chance, für die wir alle eine Verantwortung tragen.
Bei der Bundestagwahl 2021 hat die Partei Die Linke eine existenzbedrohende Niederlage erlitten. Nur dank der von Gesine Lötzsch und Gregor Gysi in Berlin und Sören Pellmann in Leipzig gewonnenen Direktmandate wird DIE LINKE trotz 4,9 % mit 39 Abgeordneten im neugewählten Bundestag vertreten sein.
Dieses Ergebnis ist besonders für alle bitter, die mit viel Engagement und großem Einsatz für einen Erfolg der Linken gekämpft haben. Gerade ihnen gilt heute unser Dank. Unser Dank gilt auch den beiden Spitzenkandidaten Janine und Dietmar für ihren Einsatz im Wahlkampf.
Es greift zu kurz, diese Niederlage aus dem Wahlkampf der letzten Wochen, aus den widrigen Bedingungen der Pandemie oder aus dem Streit um ein Buch zu erklären. Die Ursachen liegen tiefer und erfordern eine schonungslose Analyse der Politik der letzten Jahre, die unsere Partei in diese Situation gebracht hat.
Gemeinsam haben wir es bisher nicht vermocht, aus einer ganzen Reihe von seit 2012 sichtbaren Niederlagen die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Deshalb hält es der Bundesausschuss für notwendig für die Auswertung der Wahlen eine wissenschaftliche Studie zur Erlangung empirischer Daten und deren Auswertung bei einem unabhängigen Institut in Auftrag zu geben.
Der Bundesausschuss hat seit längerem und wiederholt eine konstruktive Debatte mit klaren Entscheidungen zur Strategie und Parteientwicklung eingefordert.
Besonders zu nennen sind hier seine Beschlüsse nach der Niederlage in der Europawahl 2019 „Ein weiter so kann es nicht geben“ und zur Vorbereitung der Strategiekonferenz 2020.
Diese Beschlüsse blieben jedoch folgenlos.
Der Bundesausschuss wird deshalb mit Nachdruck seine Verantwortung als Kontroll- und Initiativorgan gegenüber dem Parteivorstand wahrnehmen.
Es geht um eine gründliche Analyse und um das gemeinsame Ringen um eine politische Linie und den Kampf um deren Verwirklichung. An die Stelle von Schuldzuweisungen muss auch im Verhältnis zwischen den Fraktionen und den Vorständen das Bekenntnis zur eigenen Verantwortung treten.
Der Bundesausschuss wird sich durch folgende Vorhaben aktiv in diesen Prozess einbringen:
1.Entsprechend unserer in der Satzung festgeschriebenen Aufgabe, das Zusammenwachsen der Landesverbände zu fördern und zu unterstützen, werden wir uns in unserer Novembersitzung der Entwicklung der einzelnen Landesverbände widmen, Fragen der Mitgliedergewinnung und Bindung an die Partei diskutieren. Ziel soll es sein, aus den unterschiedlichen Erfahrungen der Landes-und Kreisverbände zu lernen und Anregungen für die eigene Entwicklung zu geben.
2. Die Diskussionen in den Kreis-und Landesverbänden machen deutlich, dass wir die politische Bildung in der Gesamtpartei verstärken müssen. Dazu fehlt einigen Kreisverbänden auf Grund der Struktur die Kraft bzw. auch Personen, die sich dafür verantwortlich fühlen. Wie und mit welchen Methoden der Nutzung vorhandener Strukturen wir diesen Prozess unterstützen können, werden wir weiter diskutieren.
Für eine zielführende Gestaltung braucht es einen ideenoffenen Prozess, in welchem gerade auch jungen Menschen Freiräume gelassen werden moderne Lösungen für die neuen Herausforderungen gerade auch im digitalen Raum zu finden.
3. In Vorbereitung des Europawahlprogrammes werden wir die inhaltliche Debatte um die Entwicklung Europas und der EU auf der Basis konkreter inhaltlicher Schwerpunkte weiterführen.
4. Orientiert am Parteiprogramm werden wir mit Nachdruck die strategische Ausrichtung der Partei begleiten.
Der Bundesausschuss fordert den Parteivorstand auf:
- Die in Auswertung der Bundestagswahlen durch die unterschiedlichen Strukturen der Partei bzw. auch außerhalb der Partei vorgelegten Analysen auf der Internetseite der Partei zu veröffentlichen und diese in die eigene Bewertung mit einzubeziehen,
- die Organisation eines strukturierten Prozesses der Auswertung der Wahlen von den Basisorganisationen bin hin zu Regionalkonferenzen einzuleiten.
- Dem Bundesausschuss im März 2022 (in Vorbereitung auf den Bundesparteitag) die Zwischenergebnisse vorzulegen.
- die Strukturen der Partei (BAG, Ältestenrat, BA) und die Linksjugend [´solid] für die weitere Arbeit zu nutzen um die notwendigen politischen Debatten in der Partei ergebnisorientiert zusammen zu führen.
- in Vorbereitung der anstehenden Wahlen 2022 dem Bundesausschuss im November eine Konzeption vorzulegen, wie und mit welchen Maßnahmen die Bundespartei diese Wahlen unterstützen wird.
- Den 2020 abgebrochenen Prozess der innerparteilichen Strategiedebatte gemäß der eigenen Beschlusslage wieder anzustoßen.
Die Zeit fordert, dass wir handeln
Berichterstattung des Ältestenrates der Partei DIE LINKE zur Klausur des Parteivorstandes am 2. und 3. Oktober 2021
Mit dem Verlust von über 2 Millionen WählerInnen, der Halbierung unserer WählerInnen gegenüber der Wahl 2017 und dem Verlust von vielen Parlamentsmandaten in der Bundestagswahl hat sich die Abwärtstendenz für die LINKE, wie in den Landtagswahlen zuletzt Sachsen-Anhalt, fortgesetzt. Keine Frage, dieser Niedergang unserer politischen Substanz ist kein Augenblicksphänomen, sondern hat sich seit längerem angebahnt. Es wäre kein Signal der gründlichen, selbstkritischen Aufarbeitung, wenn dieser politische Absturz nur auf die Bedingungen der Corona-Pandemie und Fehler bei der Anlage und Durchführung des Wahlkampfes zurückgeführt würden.
Der Ältestenrat und auch der Bundesausschuss haben in den vorangegangenen Teilniederlagen mehrfach darauf verwiesen, dass die Beschädigungen der innerparteilichen Demokratie nicht nur durch die Auflagen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens begründet werden können, sondern auch durch selbstverschuldete organisatorische Defizite mit verursacht wurden.
Auch der Ältestenrat wurde in seinem Aktionsradius durch die Pandemiebekämpfung eingeschränkt. Erst Mitte August konnte eine Präsenzveranstaltung in Berlin wieder durchgeführt werden. Im Zentrum stand ein Eingangsreferat des Genossen Jörg Schindler, Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter, zu den politischen Problemen des Wahlkampfes. Wie üblich und gemäß der Satzung unserer Partei den Parteivorstand zu beraten und an öffentlichen Debatten teilzunehmen, haben wir diese Beratung durchgeführt. In einer Mitteilung, die allen Mitgliedern des Parteivorstandes und den SprecherInnen des Bundesausschusses übermittelt wurde, haben wir unsere Einschätzungen und kritische Bewertungen dieser Beratung dokumentiert. Eine kurze Zusammenfassung aus dem Echo dieser Debatte liegt gleichfalls schriftlich vor.
Wir bitten den Parteivorstand und den Bundesausschuss unsere Bemühungen bei der angekündigten Analyse der Ursachen unserer so grundlegenden Niederlage bei den Wahlen und dem Stand der Parteientwicklung zu beachten und unseren Beitrag zur Gestaltung der „letzten Chance die Partei nach vorn zu entwickeln“ ernst zu nehmen, Ohne Mobilisierung aller Segmente der Partei und ohne Respektierung der innerparteilichen Demokratie werden wir die aktuelle Krise nicht meistern können.
Nun kurz zu den wichtigsten Einschätzungen und Bewertungen Bundestagswahl und dem offenkundigen Substanzverlust der Linkspartei:
1. Mit der Bundestagswahl 2021ist auch in Deutschland sichtbar geworden, dass die enormen Veränderungen der produktiven Kräfte der Gesellschaft nachhaltige Konsequenzen für das Verhältnis zur Natur (Klimawandel) und für Rang und Einfluss unter den Nationen in Europa und der Welt haben. Die Niederlage der CDU bei der Wahl 2021 leitet eine politische Zeitenwende ein. Ob die CDU als konservativ-reaktionäre Kraft nach der Großen Koalition weiter regieren wird, bestimmen nun die Grünen und die FDP. Ob die CDU dafür ihren Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Laschet opfern wird, ist noch völlig offen.
Weil die Gewerkschaften, Sozialverbände und Kirchen – kurz der Großteil der Zivilgesellschaft – von diesem rasanten Wechsel auch erfasst wurden, hat mit dem Ende der Großparteien ein neues Zeitalter für die politische Willensbildung und das Repräsentativsystem begonnen. Wenn die christlichen Kirchen ihre organisatorisch-symbolischen Defizite beklagen, kann es keine großen christlichen Parteien in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft mehr geben. Wie in anderen europäischen Nationen auch werden wir künftig mit der Formierung von mehr-Parteien-Regierungen konfrontiert werden, was den Übergang zu Minderheitskoalitionen und längeren Zeiträumen der Regierungsbildung einschließen kann. Eine weitere Konsequenz der Auflösung von integrativen bürgerlichen Parteien der Mitte ist die Stabilisierung von einer Partei der neuen Rechten.
Wohin die Grünen und die FDP neigen, ist offen und noch offener sind die Inhalte ihrer Konzeptionen und politischen Praxis, die zur Koalitionsbildung mit SPD oder CDU jeweils ausgelotet werden. Die von beiden möglichen künftigen Partnern tolerierten sogar gewünschten Vorgespräche zwischen Grünen und FDP sind der Versuch, um mit mehr Sicherheit für Erfolg in die Regierungsgespräche zu gehen.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass von diesen Unsicherheiten in der politischen Ausrichtung, die bisherige Ausrichtung an der Westbindung, d.h. an der Einbindung in das Hegemonialsystem der durchaus geschwächten Weltmacht USA festgehalten wird, was auch eine Stärkung des Militärbündnisses NATO und deren Erweiterung einschließt. Die bekannten Feindbilder – Volksrepublik China und Russland – werden auch künftig die Aktionen im globalen Maßstab prägen. Zugleich wird jedwedes neue Regierungsbündnis in Deutschland sich auf eine Stärkung der Wirtschaftskraft und Ausbau der Konkurrenzposition von Deutschland in Europa und der Globalökonomie verpflichtet sehen.
Neben den politischen Veränderungen im europäischen und globalen Machtgefüge werden die Regierungsbündnisse in Deutschland auch künftig mit der Tilgung der umfangreichen Kredite infolge der Krisenbekämpfung der Pandemie und den Anforderungen zum Ausbau der öffentlichen Infrastruktur mit Blick auf die Beherrschung der Klimawandels beschäftigt sein. Es ist weiterhin eine Hauptaufgabe der parlamentarischen Linken die Eckpunkte des Sozialstaates im Blick zu behalten und der Erhöhung des Mindestlohns, der Aufstockung der Regelsätze und dem Ausbau der Alterssicherung erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Der Ausgang der Bundestagswahl hat auch erneut unterstrichen, dass dem Ausbau der Kompetenz für die Ausgestaltung der gleichwertigen Lebensverhältnisse in Ostdeutschland ein zentrales Anliegen der Linkspartei bleiben sollte.
Der Ältestenrat unterstreicht, dass den Veränderungen in der gesellschaftlichen Ökonomie im Rahmen der unverzichtbaren Strategiedebatte der Linkspartei ein höherer Stellenwert zugeschrieben werden sollte.
2. Zu Recht wird bei den Einschätzungen zum Ausgang der Bundestagswahl vielfach betont, dass mit dem Ende des System Merkels die Veränderungen in Ökonomie, Gesellschaft und Politik sich brutal Bahn gebrochen haben. Die Große Koalition hat unter der Führung von Merkel, die größte kapitalistische Wirtschaftsmacht und die stärkste Militärkraft in der Europäischen Union geschaffen. Zugleich sind die Widersprüche zwischen Reichtum und Armut in der Gesellschaft enorm verschärft worden. Neben dem Kampf gegen den Klimawandel geht es vorrangig um die Durchsetzung der Gerechtigkeit. Neben dem drückenden Feld der Bekämpfung von prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen hat mittlerweile die Wohnungsfrage ungeheure Sprengkraft erhalten. Auch nach über 30 Jahren müssen wir konstatieren, dass auf nahezu allen Feldern der sozialen Existenz die Benachteiligung in Ostdeutschland vielfach den Eindruck erzeugt, dass die BürgerInnen Ostdeutschland keineswegs über einen vergleichbaren Sozial- und Rechtsstandard der in Westdeutschland lebenden Menschen verfügen.
3. Die SPD ist gewiss kein strahlender Sieger, aber es der Sozialdemokratie mit ihrem Führungskräften Scholz, Schwesig und Giffey gelungen, eine größere Wählerschaft zu erreichen, als allgemein auch von uns erwartet wurde. Die Verantwortlichkeit dieser Partei für die Agenda 2010 und einen rigiden Umverteilungskurs konnte in der Hintergrund gedrängt werden und aus den Zweifeln gegen die erkennbaren Zumutungen von CDU und FDP konnte die SPD mit dem Versprechen des Ausbaus sozialer Gerechtigkeit viel neuen Boden gewinnen. Was vor der Wahl innerparteilich in der SPD noch sehr strittig war, konnte überwunden und dann erfolgreich eingesetzt werden. Trotz aller Zeichen von Olaf Scholz für eine spürbare Distanz zur LINKEN und mit Aussagen in Richtung Grün und Gelb, drang bis in die Öffentlichkeit durch, dass die LINKE schon Sondierungen für ihre Regierungsteilnahme vornimmt. Weder Grüne noch die FDP hatten solche Aussagen in ihrem Wahlkampf. Wie die Wahlen und die Wählerwanderungen zeigten, es wird das Original der Ansage und nicht die Ansagerin gewählt.
4. An erster Stelle in unserer Bewertung des Wahlausgangs sollten die Veränderungen in der bundesdeutschen Gesellschaft stehen. In der Folge der Entfesselung der produktiven Kräfte sind wir sowohl mit bedrohlichen Umwälzungen im Verhältnis zur Natur und zur Verschärfung der sozialen Spaltungen konfrontiert. Auf diese Herausforderungen wollen wir in einer emanzipativen Strategie einen Beitrag zur Stärkung des Widerstandspotentials leisten. Nach einer gründlichen Analyse unserer Defizite und nach einer umfassenden parteiinternen Diskussion, die über die Vorstandsgremien hinausgeht, können wir trotz der schmerzenden Niederlage unseren Beitrag leisten und zeigen wie wir linke Politik entfalten und wirksam machen wollen und vor allem, wie wir sie weiter entfalten können.
Sprechen wir von den Ursachen der Wahlniederlage müssen wir uns wohl eingestehen, dass wir einen Wahlkampf mit engstem Blick auf uns und nicht mit dem ständigen Blick auf die wechselvollen Ereignisse, die Politik der politischen Parteien und der Stimmungsentwicklung in unserer Gesellschaft gerichtet haben. Der Bundesausschuss und der Ältestenrat haben seit längerem und wiederholt eine konstruktive Debatte mit klaren Entscheidungen zur Strategie und zur Parteientwicklung angemahnt. Es gab nie eine Zurückweisung der Vorschläge aber es gab auch kein konstruktiv-kritisches Handeln. Neue Schwüre und Versprechen werden den seit längerer Zeit gewachsenen Vertrauensverlust zur Führung und zu Führungskräften in der Partei nicht aufheben.
5. Im Deutschen Bundestag wird es künftig drei Oppositionsparteien geben – AfD und DIE LINKE sind schon gesetzt, ob CDU oder SPD sind noch offen. Wir haben also nicht vier Jahre um uns zu Finden und zu Erneuern. Spätestens Anfang 2022 wird eine politische Zeitenwende im Deutschen Bundestag noch deutlicher werden. Mit einem „Weiter so“ in der Politik nur etwas kleiner an der Zahl werden wir im Verlierermodus verharren, wie uns das Wahlergebnis mit starken Nachwirkungen bewusst machen sollte.
Eine große Herausforderung, die bis in die Wurzeln der Politik unserer Partei reicht, ist der Verlust, nicht mehr die Ostdeutsche Volkspartei zu sein. Die Bedeutung der Partei DIE LINKE hat auch in Westdeutschland an Anziehungskraft verloren. Es gilt, das Parteileben in der gesamten Partei genauer zu betrachten und zu prüfen, wie sich im Rahmen der föderalen Struktur des Bundes die Länderorganisationen darstellen und entwickeln. Das hintergründige Streben, Thüringen zum Bundesmodell zu machen, gehört doch zu den Fehlern, die wir überwinden sollten.
Die Basisarbeit in der Partei ist allgemein nicht auf der Höhe der Anforderungen, aber ohne die Kreisorganisationen in der Fläche unter Beachtung ihrer regionalen Bedingungen wird es kein Wachstum und nicht die nötige politische Kraft geben, die gerade jetzt die Linke so nötig braucht.
Als Mitglied der deutschen LINKEN ist jedes Mitglied auch als Doppelmitglied in der Europäischen Linken. Die Enttäuschung über unsere Wahlniederlage hat ihre Wirkung auch in der ELP. Es wäre zu prüfen, wie solidarisch nicht nur die Gefühle sind, die uns verbinden, sondern auch zu betrachten, mit welchen Kräften wir politisch und materiell die Europäische Partei weiter stärken und in der Fraktion im Europaparlament wirken. Wir wollen es auch offen aussprechen, wir bestimmen nicht die Zeit des Handelns, die Zeit bestimmt, fordert, dass wir handeln. Die Höhe, die Tiefe und die Breite und vor allem die Qualität mit der es geschieht, wird über den Platz und den Erhalt der Partei DIE LINKE entscheiden.
Mehr streiten! Für Frieden, soziale Gleichheit und Klima!
Diskussionsbeitrag zum Ergebnis der Bundestagswahl
Von Achim Kessler (KV Frankfurt), Gabi Faulhaber (KV Wetterau), Julian Eder (KV Wetterau), Karlheinz Hofmann (KV Wetterau), Nick Papak Amoozegar (KV Kreis Offenbach), Ulrich Wilken (KV Frankfurt), Yusuf Karaaslan (KV Marburg) Mit Unterstützung von Uli Franke (KV Darmstadt), Günter Schäfer (KV Werra-Meißner), Lukas
Hof (KV Frankfurt), Meryem Eker (KV Fulda), Markus Gludovacz (KV Wiesbaden), Monika Nebgen-Bambusch (KV Frankfurt), Uwe Bambusch (KV Frankfurt), Benjamin Roth (KV und SDS Frankfurt), Johannes Riedel (KV Frankfurt), Martina van Holst (KV Frankfurt), Meike Jockers (KV Wetterau), Anja El Fechtali (KV Wetterau), Helmut Furtmann (KV Frankfurt), Margarete Wiemer (KV Frankfurt)
Das Ergebnis von 4,9 Prozent bei der Bundestagswahl ist unser gemeinsames Ergebnis, unsere gemeinsame Niederlage. Niemand kann sich aus der Verantwortung stehlen. Es ist das Ergebnis unserer Selbstbeschäftigung, das Ergebnis von parteiinternen Auseinandersetzungen, die niemand – vor allem außerhalb der Partei – mehr nachvollziehen kann. Es ist aber auch das Ergebnis eines innerparteilichen Burgfriedens, der zwar das Auseinanderfallen der Partei, aber zugleich auch eine
klare Positionierung in manchen zentralen Fragen verhindert hat.
Es ist erschütternd, dass sich das Ritual gegenseitiger Schuldzuweisungen und von Sachfragen losgelöster Personaldebatten nach diesem niederschmetternden Ergebnis fortsetzt, als sei nichts gewesen. Es muss uns allen klar werden: Die Fortsetzung dieser unproduktiven, selbstbezogenen parteiinternen Auseinandersetzungen führt in den gemeinsamen Untergang. Dann werden wir weder in den Hessischen Landtag noch in den Bundestag wieder einziehen. Der eine oder die andere mag
sich dann noch immer im Recht fühlen. Aber wir hätten dann gemeinsam die historische Chance vertan, die Interessen von abhängig Beschäftigten und sozial Ausgegrenzten parlamentarisch zu vertreten und den außerparlamentarischen Kampf gegen den Neoliberalismus und seine verheerenden sozialen, ökologischen und ökonomischen Folgen zu stärken.
Der Weg aus der Krise …
Der Weg aus dieser Krise unserer Partei DIE LINKE führt über einen Prozess der Selbstverständigung. Dieser Prozess muss dem Zweck dienen, unsere Schlagkraft gegen die politischen Gegner schnell wieder herzustellen. Er ist kein Selbstzweck und er darf bestehende Gräben nicht vertiefen. Es gibt niemanden in unserer Partei, der oder die nicht auf der Seite der abhängig Beschäftigten und sozial Ausgegrenzten stünde, niemanden, der oder die sich nicht für die Rettung des Klimas und die Verteidigung der Menschenrechte aller Menschen einsetzen würde, egal welcher Herkunft oder sonstigen Identität. Das ist der Grund, warum wir alle Mitglieder unserer Partei sind. Und das ist der Grund warum wir miteinander – und nicht gegeneinander – arbeiten müssen und können. Aber es gibt offene Fragen, wie wir diese Ziele am besten fördern und welche Gewichtung sie jeweils in der politischen Zuspitzung haben müssen. Diese Fragen sind nicht nur in unserer Partei offen. Sie sind in der gesamten Gesellschaft unbeantwortet, weil sie gesellschaftliche und ökonomische Widersprüche abbilden, die noch nicht aufgehoben sind. Wir müssen also diese offenen
Fragen – auch in unserer Programmatik – klar benennen und diskutieren, um nach außen wieder überzeugende und gewinnende Antworten geben zu können.
Dass wir dabei nicht alle einer Meinung sind, ist für eine produktive Diskussion hilfreich, sofern sie auf die Lösung der Probleme und nicht auf den innerparteilichen Machterhalt gerichtet ist. Und es ist hilfreich, dass wir unterschiedliche Lebens- und Politikerfahrungen haben: Nur so können wir die Interessen von Arbeiterinnen und Arbeitern, Angestellten und Selbstständigen in ihrer Verschiedenheit erkennen und vertreten. Nur so können wir die politische Arbeit in Regionen, in denen wir stärker sind, und solchen, in denen wir schwächer sind, können wir die Arbeit in Opposition und Regierung auf ein gemeinsames Ziel radikal zuspitzen. Egal ob beim Klima, bei Arbeits- und Lebensbedingungen oder in der Außenpolitik: unsere Politik dient der Vertretung der Interessen der abhängig Beschäftigten und der sozial Ausgegrenzten. Lasst uns also darüber streiten, wie wir das am besten machen!
Gemeinsam stärker werden!
Wir stehen dabei vor einer schwierigen Aufgabe: Wir müssen unsere Politik nach außen auf den Kernbereich der sozialen Sicherheit zuspitzen und gleichzeitig die verschiedenen Kämpfe miteinander verbinden. Dazu müssen wir als Partei stärker werden. Das setzt voraus, dass wir der politischen Arbeit aller Mitglieder die gleiche Wertschätzung entgegenbringen. Wir freuen uns sehr, wenn mehr Frauen, queere Menschen, junge Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund bei uns mitarbeiten und Verantwortung in Parteigremien übernehmen. Aber wir dürfen Frauen-, Queer-, Klima- oder Migrationspolitik nicht an sie delegieren, sondern müssen sie gemeinsam vertreten.
Und wir schätzen auch die politische Arbeit alter, weißer Genossinnen und Genossen, seien sie Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellte, Akademikerinnen und Akademiker oder Selbstständige. Denn die Grundlage unserer gemeinsamen politischen Arbeit ist der Klassenstandpunkt und nicht Alter, Herkunft oder Geschlecht.
Krieg und Frieden Im Bundestagswahlkampf ist deutlich geworden, dass der antimilitaristische Konsens gefährdet ist, den es lange Zeit mehrheitlich in der deutschen Bevölkerung gegeben hat. 20 Jahre Krieg als Mittel der deutschen Außenpolitik haben Spuren hinterlassen, auch bei jungen Menschen. Das ist erschreckend.
Aber wir müssen uns dieser Herausforderung stellen: Nicht durch Aufweichen unserer antimilitaristischen Grundhaltung, aber wir müssen uns neu aufstellen für den Kampf gegen die Militarisierung der Gesellschaft und der Außenpolitik, gegen Aufrüstung und gegen humanitär bemäntelte Auslandseinsätze der Bundeswehr. Hier muss die Partei DIE LINKE mit einer klaren Stimme sprechen. Wenn die gesellschaftliche Mehrheit in der Friedensfrage kippt, müssen wir zusammenrücken,
denn der Druck auf uns alle wird steigen. Enthaltungen im Bundestag sind dabei keine dauerhafte Lösung: Sie verprellen unsere Stammwählerinnen und -wähler und erzeugen gleichzeitig ein öffentliches Bild der Unentschiedenheit. Dadurch verlieren wir den Respekt auch derjenigen, die unsere Position nicht teilen, und wir spielen in der Auseinandersetzung über Krieg und Frieden keine Rolle mehr.
Hartz IV muss weg, aber wie?
Bei der Frage der sozialen Gerechtigkeit gab es im Bundestagswahlkampf eine deutliche Bewegung, und zwar verblüffender Weise hin zur SPD. Offenbar haben viele Wählerinnen und Wähler vergessen, dass SPD und Grüne gemeinsam vor 20 Jahren den deutschen Sozialstaat geschleift haben. Auch viele unserer ehemaligen Wählerinnen und Wähler haben dieses Mal die SPD gewählt, weil sie sich von ihr eine Verbesserung ihrer sozialen Situation versprechen. Das ist für uns bitter. Aber wir müssen uns den Tatsachen stellen. Wenn die Menschen vergessen haben, dass die SPD Hartz IV durchgesetzt hat, dann verlieren wir damit gleichzeitig unsere Funktion als Korrektiv der SPD. Wir müssen uns deshalb neu aufstellen. Das bedeutet, dass wir einerseits Unterstützung für Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher konkret machen müssen: Durch Sozialberatung, durch Hilfe zur Selbsthilfe, durch Skandalisierung konkreter Fälle. Das bedeutet aber auch, dass wir ein ausstrahlungskräftiges
Zukunfts-Modell sozialer Gleichheit erarbeiten müssen, das über das hinausreicht, was in der Vergangenheit schon einmal erreicht worden war. Dazu gehört auch, dass wir die Diskussionen in und mit den Gewerkschaften offensiver führen und die Arbeit von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern in unserer Partei besser koordinieren und inhaltlich zuspitzen: DIE LINKE muss auf allen Ebenen erkennbar werden als streitbare Kraft für soziale Sicherheit und Gleichheit aller Menschen!
Brückenfunktion bei der Rettung des Klimas Obwohl wir das konsequenteste Programm zur Rettung des Klimas hatten und haben, haben viele unserer ehemaligen Wählerinnen und Wähler diesmal die GRÜNEN gewählt. Auch das ist bitter. Und auch hier müssen wir uns den Tatsachen stellen: Wählerinnen und Wähler schreiben uns bei der Rettung des Klimas keine besondere Kompetenz zu, weil die marktwirtschaftlichen Strategien zur Bekämpfung der Klimakatastrophe, wie sie die anderen Parteien, auch die Grünen, vertreten, nicht hinterfragt werden. Wir haben uns glasklare Positionen zur Bewältigung der Klimakrise erarbeitet.
Weniger klar ist allerdings die wichtige Funktion, die unsere Partei bei der konkreten Bewältigung der Krise hat. Die Klimakatastrophe wird nur zu verhindern sein, wenn die Mehrheit der Menschen die Maßnahmen mittragen können. Sie müssen mehr soziale Sicherheit bringen, sonst wenden sich die Menschen ab und rechtspopulistischen Parteien zu. Diese Brückenfunktion hat DIE LINKE: Wir müssen dafür kämpfen, dass Klimapolitik auch eine Politik der Umverteilung von oben nach unten wird, statt die Lasten vor allem den finanziell schlechter Gestellten aufzuhalsen. Wenn wir Druck machen für die Verbesserung der sozialen Situation der Menschen im Zuge der Klimapolitik, können wir abhängig Beschäftigte und sozial Ausgegrenzte für eine sozial gerechte Klimapolitik gewinnen. Dazu müssen wir künftig die sozialen Aspekte unserer Klimapolitik stärker zuspitzen.
Konsequente Opposition im Bundestag wie im Hessischen Landtag
Dass SPD und GRÜNE, die Erfinder von Hartz IV, Hartz IV nun mit Unterstützung der FDP reformieren wollen, ist alarmierend. Ähnliches gilt für die Klimapolitik, die stark marktwirtschaftlich geprägt sein wird. Ganz zu schweigen von der Außenpolitik: Es ist schon sehr dreist, wenn SPD und Grüne nach einem zwanzigjährigen sinnlosen Krieg in Afghanistan von uns fordern, ihre Außenpolitik zu übernehmen. Es liegt jetzt an uns, gegen diese Neuauflage alter neoliberaler Konzepte lautstark zu streiten und gleichzeitig Lösung anzubieten, die als reale alltägliche Verbesserungen des Lebens erkannt werden und gleichzeitig über kleine Verbesserungen des Alltags deutlich hinausweisen.
Ob es im Bund und in Hessen jemals wieder zu einer Situation kommen wird, in der ein parlamentarisches Bündnis einen echten Politikwechsel für Frieden und soziale Sicherheit herbeiführen kann, ist völlig offen und hängt von verschiedenen Voraussetzungen ab. Erstens muss DIE LINKE überhaupt in beiden Parlamenten vertreten sein. Dazu muss sie in den nächsten Jahren eine streitbare, wahrnehmbare und auf Kernforderungen zugespitzte Oppositionsarbeit machen. Zweitens muss
DIE LINKE stark genug sein, um auf SPD und GRÜNE überhaupt Druck ausüben zu können. Das wiederum hängt von der weiteren Entwicklung vor allem der sozialen Bewegungen und damit der gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse ab. Die Klimabewegung, aber auch die Bewegungen zur Enteignung von Wohnungsbaukonzernen oder zur Rekommunalisierung von Krankenhäusern sind positive Ansätze, die wir auch weiterhin unterstützen werden.
Streitbar! Für die Interessen der Mehrheit!
DIE LINKE muss als streitbare, selbstbewusste Opposition für die Interessen der Mehrheit der Menschen deutlich erkennbar sein. Streit in der Partei muss genau diesem Ziel dienen: Wie erreichen wir die Menschen wieder, deren Vertrauen wir verloren haben. Und diesem Ziel muss die Arbeit unsere Fraktionen auf allen Ebenen untergeordnet sein: Unsere Abgeordneten müssen verstehen, dass der Wiedereinzug eines und jeder Einzelnen davon abhängt, ob wir gemeinsam als Partei gewinnen. Die Zeit der Ich-AGen ist vorbei. Alle Themen sind für die Arbeit im Parlament wichtig, aber nicht alle Themen haben für die Außenwirkung und den Erfolg der Partei denselben Stellenwert. Auch über diese Zuspitzung auf Kernthemen- und Forderungen müssen wir streiten – und zwar öffentlich und transparent.
4,9 Prozent: War’s das für DIE LINKE?
DIE LINKE ist mit 4,9 Prozent nur durch die drei Direktmandate erneut im Bundestags vertreten. Dieses Ergebnis ist ein Debakel. Aber noch kein Grund für Abgesänge auf DIE LINKE. Wir brauchen jetzt und in den nächsten Monaten keinen lähmenden und destruktiven Stellungskrieg innerhalb der Partei und in dieser Situation sicher auch keinen kräftebindenden und Flügelkonflikte anheizenden Prozess für ein neues Parteiprogramm. Wir möchten vielmehr als wichtiger innerparteilicher Zusammenschluss anregen, die Wahl nüchtern auszuwerten und zu analysieren, um daraus vorwärtsweisende Schlussfolgerungen für die weitere Ausrichtung und Praxis der Partei zu ziehen. Hierzu möchten wir mit diesem Text einen Beitrag leisten.
Allgemeine Verunsicherung
Die Bundestagswahl 2021 fand vor dem Hintergrund einer riesigen Verunsicherung statt. Die zahlreichen Krisen ohne jede Lösungsperspektive bedrücken viele Menschen in diesem Land. Diese Unsicherheit in Kombination mit einem Ohnmachtsgefühl führte dazu, dass viele Wähler*innen zur Mitte tendierten, weil diese die Sicherheit des Status Quo suggeriert. Die unerwartet guten Ergebnisse der SPD sind vor allem darauf zurückzuführen, dass sich Olaf Scholz gegenüber dem Unions-Kandidaten Armin Laschet als „der bessere Angela Merkel-Ersatz“ präsentiert hat. Auch die Grünen haben sich mit der Kandidatin Annalena Baerbock eher als „ökologischere Mitte“ denn als wirkliche Alternative dargestellt.
Insbesondere die Corona-Pandemie stellte für DIE LINKE eine zusätzliche Herausforderung dar. Gleichzeitig zeigte sich in den Nachwahlbefragungen, dass die wichtigste Frage für die Mehrheit der Wähler*innen das Thema soziale Sicherheit war. Dann folgten die Themen Klima/Umwelt sowie Wirtschaft/Arbeit, und erst danach der Umgang mit der Corona-Pandemie. Hinzu kommt das Thema Migration, das vor allem in den letzten Jahren die politische Debatte beherrschte. In all diesen Fragen hatte DIE LINKE nur im Bereich der sozialen Gerechtigkeit eine einheitliche Antwort zu bieten. In allen anderen Fragen waren die Aussagen von Partei und Fraktion widersprüchlich.
Hier zeigt sich ein wesentliches, strukturelles Problem der Partei. Denn zu aktuellen Fragen gibt es keinen gemeinsamen und verbindlichen Modus der Positionsfindung. In den letzten Jahren sind alle Konflikte durch Formelkompromisse bereinigt worden, und auch an diese haben sich nicht einmal alle Teile der Partei gehalten. Es ist daher folgerichtig, dass die Nachwahlbefragung lediglich beim Thema der sozialen Gerechtigkeit nennenswerte Kompetenzwerte für DIE LINKE zeigt. Ebenso folgerichtig ist, dass dieser Wert, der bis zur Europawahl 2019 gestiegen, nun erstmals gesunken ist (siehe Abbildung 2).
In anderen Fragen konnte sich DIE LINKE trotz eines guten Programms[1] nicht klar profilieren. Vor dem Hintergrund einer sich weiter polarisierenden Gesellschaft hat dies dazu geführt, dass wir in allen gesellschaftlichen Milieus verloren haben. Wir konnten weder bei den Arbeitslosen und Arbeiter*innen den seit 2009 anhaltenden Trend der Abwanderung von Wähler*innen ins Spektrum der Nichtwähler*innen aufhalten, noch gelang es uns, im Bereich der akademischen Mittelschichten die Wähler*innen, die wir bei der letzten Bundestagswahl überzeugen konnten, dauerhaft zu halten. Besonders bitter: Die gewerkschaftliche Verankerung der Partei hat messbar nachgelassen. DIE LINKE hat auch unter den Gewerkschaftsmitgliedern sowohl relativ als auch absolut am stärksten von allen Parteien verloren hat.
Für viele bleibt entweder das Gefühl, dass sich DIE LINKE zu viel mit Nebensächlichkeiten beschäftigt oder zu wichtigen Themen keine klare Haltung eingenommen hat. Hinzu kommt, dass der Partei nicht zugetraut wird, wirkliche Veränderungen durchzusetzen. Auch wenn dies bei dieser Wahl von den Umfrageinstituten nicht erfragt wurde, war zumindest bei den letzten Wahlen die markanteste Aussage unserer Wähler, dass wir die richtigen Probleme zwar ansprechen, aber nichts zur Lösung beitragen können. Es wurde uns also nicht zugetraut, unsere Forderungen auch durchzusetzen. Obwohl DIE LINKE einen Mindestlohn von 13 Euro forderte, gingen die Stimmen der Menschen tendenziell an die SPD, deren Mindestlohnforderung sich auf nur zwölf Euro belief, der aber zugetraut wurde, diese Forderung auch durchzusetzen. Das Beispiel zeigt, dass es nicht nur auf die richtigen Forderungen ankommt, sondern auch auf die Durchsetzungsperspektive. Die Schwäche der LINKEN war, dass sie eine Botschaft, wie sie beispielsweise Bernie Sanders in den USA aussenden konnte, dass es um einen gemeinsamen Kampf gegen die Interessen der wirklich Mächtigen geht, nur unzureichend vermitteln konnte.
Diese mangelnde Durchsetzungsperspektive wurde im Wahlkampf durch eine starke Orientierung auf eine mögliche Rot-Grün-Rote-Regierung zu kompensieren versucht. Weil aber die Spitzen von SPD und Grünen deutlich gemacht haben, dass sie mit der LINKEN keine gemeinsame Regierung wollen, wirkten diese Versuche wenig mobilisierend. Es ist zweifelsohne richtig, dass sich die überwältigende Mehrheit unserer Wähler*innen eine Rot-Grün-Rote-Regierung wünscht. Deshalb ist eine generelle Ablehnung von Regierungsbeteiligungen auch keine denkbare Option für DIE LINKE. Der Fokus auf Rot-Grün-Rot führt aber auch dazu, dass wir uns als Partei in eine gewisse Abhängigkeit von SPD und Grünen begeben. Deshalb kommt es hier umso mehr darauf an, SPD und Grünen mit einem eigenständigen Profil auf Augenhöhe zu begegnen. Das ist uns im Wahlkampf nicht gelungen. Auch die Stoßrichtung „LINKE oder Lindner“ hat wenig zur eigenen Profilschärfung beigetragen, weil die Menschen sich nicht zwischen der LINKEN und der FDP, sondern zwischen der LINKEN, der SPD und den Grünen entscheiden wollten. Im Wahlkampf hat sich somit gezeigt: Der LINKEN fehlt eine kohärente Erzählung, wie ein Politikwechsel durchgesetzt werden kann.
Innerparteiliche Orientierungslosigkeit
Diese Orientierungslosigkeit drückt sich aus und wird verstärkt durch einen in der Form völlig destruktiven innerparteilichen Streit. Es werden in öffentlichen Debatten eigene Wähler*innengruppen gegeneinander gestellt und zum Teil verunglimpft, es werden interne Dokumente an die Öffentlichkeit durchgesteckt, es werden angebliche Zitate aus vertraulichen Gesprächen an die Springer-Presse weitergegeben, es wird öffentlich zur Nichtwahl der eigenen Landesliste aufgerufen und es werden Ausschlussverfahren gegen Genoss*innen angestrengt, die zuvor durch demokratische Entscheidungen mehrheitlich gewählt wurden. Verfehlungen werden in der Regel ausschließlich als Verfehlungen des anderen Flügels problematisiert. All das schadet der Partei. Ein gemeinsames Eintreten gegen diese Form der Auseinandersetzung wäre notwendig, ist jedoch nicht wahrnehmbar. Wir müssen lernen, den inhaltlichen Streit so zu führen, dass er uns als Partei insgesamt stärkt und nicht nur den einzelnen Flügel oder Zusammenschluss – eine Form der Auseinandersetzung, die wir durchaus von Gewerkschaften und Betriebsräten lernen können.
DIE LINKE ist aber nicht allein aufgrund der Form der Auseinandersetzungen so schwach, sondern sie streitet sich, weil sie in einigen Punkten zwar in einem Programm eine gemeinsame Perspektive erarbeitet hat, diese aber nicht geschlossen nach außen vertritt. Wir als AG Betrieb & Gewerkschaft versuchen uns aktiv im Sinne der Partei und noch viel wichtiger im Sinne der Interessen der Mehrheit der Bevölkerung einzusetzen und eine gemeinsame Perspektive zu erarbeiten, zu vermitteln und Wege zu finden, diese kollektiv durchzusetzen.
Der Ausgang der Bundestagswahl und die möglichen Politikoptionen zeigen, dass es eine alternative Stimme braucht, die die künftigen Leerstellen füllt. Der Nichteinzug der LINKEN in den Bundestag wäre auch aus diesem Grund eine Katastrophe gewesen. Deshalb ist der Wahlausgang vor allem ein Warnschuss und muss mit dem gebotenen Ernst diskutiert werden. Völlig zu Recht verweist Janis Ehling in seiner Wahlauswertung auf die historische Bedeutung der aktuellen Situation: „Die kommende Ampel- oder Jamaika-Koalition ist für die LINKE eine große, womöglich die letzte, Chance. Die Kosten der Coronakrise werden ebenso wie die Klimawandelfolgekosten mit großer Wahrscheinlichkeit von der kommenden Bundesregierung auf die Mehrheit abgewälzt werden. Auch der anstehende Umbau der Industrie wird auf dem Rücken der Beschäftigten abgeladen werden. Unterdes zeigt sich immer klarer ein Fachkräftemangel in verschiedenen Bereichen, der das Selbstbewusstsein der Beschäftigten durchaus steigern kann. Im Fall von Jamaika muss die LINKE die Auseinandersetzungen um unsoziale Massensteuern und -gebühren sowie unzureichenden Klimaschutz nutzen und darin erstarken. Die Option gegen eine sozial lahmende Ampel-Koalition unter einem Kanzler Scholz kann für die LINKE ein Konjunkturprogramm sondergleichen sein. Sie kann und muss dann in den nächsten Jahren ihre Funktion als einzige linke Kraft aus der Opposition nutzen und die Regierung vor sich hertreiben – mit und in sozialen Bewegungen, gewerkschaftlich und ökologisch orientiert und von Beschäftigten getragen. Viele weitere Chancen wird sie voraussichtlich nicht mehr bekommen. Umso mehr geht es darum diese zu nutzen.“ [2]
In der parteiinternen Debatte über die Folgen des Wahlergebnisses geht es also um das gemeinsame Verständnis, dass es DIE LINKE in ihrer Gesamtheit braucht. Das muss als erste Lehre aus diesem Wahlkampf mitgenommen werden. Und diese Gemeinsamkeit schließt auch ein, dass wir keine Milieus gegeneinanderstellen, sondern die Gemeinsamkeiten betonen und die Unterschiede produktiv nach vorne auflösen.
Wie können wir stärker werden?
Selbstverständlich müssen wir auch außerhalb der linken Szene verständlich sein. Es reicht nicht, sich innerhalb der eigenen Strukturen wohl zu fühlen, auch wenn sie ein Ausgangspunkt für politische Organisierung sein können. Die zehntausenden Haustürgespräche, die von uns in diesem Wahlkampf geführt wurden, müssen auch für die weitere Arbeit genutzt werden. Nur wenn wir vor Ort präsent sind und einen Unterschied machen, werden wir als Bereicherung für die Menschen wahrgenommen.
Wir können aber gleichzeitig nicht nur lokale „Kümmererpartei“ sein. Wir brauchen auch einen kollektiven „Gegnerbezug“. Wir verlautbaren zwar, dass wir uns mit den Mächtigen anlegen würden, aber real tun wir das nur verbal. Wir brauchen die Erzählung und die Organisierung einer kollektiven Erfahrung: Mit uns gemeinsam kann man sich „gegen die da oben“ organisieren, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Dazu gehört, dass wir die parlamentarische Auseinandersetzung mit dem außerparlamentarischen Protest verzahnen müssen.
Die Kampagne für die Enteignung der DW in Berlin war beispielgebend für diese Form der Auseinandersetzung. DIE LINKE war ein Faktor für die Stärkung einer gesellschaftlich breit verankerten Initiative, die die Eigentumsfrage stellte, damit Wohnraum kein Spekulationsobjekt wird, sondern ein Zuhause bleibt. Die Unterstützung des Volksentscheids durch DIE LINKE auch aus der Regierung heraus half auch auf der rechtlichen Ebene, der Blockadepolitik der SPD wirksam etwas entgegenzusetzen. Das trug zur Glaubwürdigkeit linker Politik bei und hat sicherlich auch an der Wahlurne geholfen. Parlamentarisch wie außerparlamentarisch war das Signal deutlich: Die LINKE stand sichtbar an der Seite des Volksentscheids.[3]
Gleichzeitig zeigt der Verlauf der Tarifauseinandersetzung im Bauhauptgewerbe, dass der Kampf um bezahlbaren Wohnraum an verschiedenen Fronten geführt wird. Die seit Juni laufende Tarifrunde ist gescheitert, weil sich die Arbeitgeber weigern, den Beschäftigten eine Wegezeitentschädigung für den Weg zu den immer weiter entfernten Baustellen zu zahlen – und das obwohl die Baubranche derzeit boomt. Wenn die IG BAU jetzt in den Streik tritt, dann muss DIE LINKE nicht nur an der Seite der Beschäftigten stehen, sondern auch dafür argumentieren, dass der Kampf um bezahlbaren Wohnraum und der Kampf um gute Bezahlung für diejenigen, die tagtäglich auf den Baustellen den Rücken krumm machen, zusammengehören.
Auch der Kampf um eine bessere Personalbemessung in Pflegeheimen und Krankenhäusern hat gezeigt, wie sehr die Auseinandersetzung um bessere Arbeitsbedingungen von der Frage tangiert wird, wie wir leben wollen und was uns die öffentliche Daseinsvorsorge wert ist. DIE LINKE hat mit dem Aufbau von Pflegebündnissen nicht nur unmittelbare Unterstützung organisiert, sondern auch dazu beigetragen, dass die gesellschaftspolitische Dimension deutlich wurde, die die Frage einer angemessenen Personalbemessung hat. Durch die Unterstützung der Pflegekräfte und die Verknüpfung ihrer Anliegen mit gesellschaftlichen Fragestellungen bekam die relativ abstrakte Forderung nach einer Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge eine konkrete Durchsetzungsperspektive. Hier gilt es zu verstehen, dass sich gesellschaftliche Dynamiken häufig nicht nur von Wahl zu Wahl verändern, sondern einen langen Atem brauchen. Zentral muss die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen für die Mehrheit der Menschen sein.
Gewerkschaftliche Verankerung und erneuertes Profil
Zentraler Fokus muss daher bleiben, abhängig Beschäftigte gezielter anzusprechen, um sie in der Partei zu organisieren und im politischen Raum ihre Perspektive zu stärken. Die Wählerwanderungen zeigen, dass das alles andere als einfach ist. Mit ihrem Versprechen, einen Mindestlohn von zwölf Euro einzuführen oder die Industrie zu erhalten und klimaneutral umzubauen, gelang es der SPD bei den Wahlen, das Image der Partei des sozialen Kahlschlags abzulegen und sich wieder stärker in den Gewerkschaften zu verankern. Es waren jedoch vor allem die Grünen, die mit plus vier Prozentpunkten am stärksten bei Gewerkschaftsmitgliedern zugelegt haben. DIE LINKE dagegen hat mit 5,2 Prozent am stärksten in dieser Gruppe verloren. Bei den gewerkschaftlichen Frauen waren wir sogar fast 10 Prozentpunkte schlechter als die Grünen und deutlich schwächer als 2017.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Grünen haben in den letzten zwei Jahren auf eine stärkere gewerkschaftliche Verankerung gesetzt und sich darum bemüht, als Partei ein Verhältnis zu den Gewerkschaften zu entwickeln. Fest steht, viele Gewerkschaftsmitglieder – junge wie alte – sorgen sich wegen des drohenden Klimawandels. Sie erwarten einen Umbau der Gesellschaft, der sowohl den Schutz der Natur als auch den Erhalt der Arbeitsplätze im Blick hat. Weil aber ohne eine stärkere Besteuerung von Multimillionären und Milliardären eine soziale Klimapolitik nicht zu machen ist, werden Grüne und SPD auf Dauer Schwierigkeiten bekommen, ihre Versprechen einzulösen. Deshalb muss die Schärfung des gewerkschaftlichen Profils der LINKEN vor allem darin bestehen, die Facetten des sozial-ökologischen Umbaus konkret auszubuchstabieren und mit der Vision für eine Wirtschaftspolitik, die sich an den gesellschaftlichen Bedarfen orientiert und demokratisch legitimiert ist, zu verbinden.
Hinzu kommt, dass die betrieblichen Kämpfe der abhängig Beschäftigten stärker mit außerparlamentarischen Bewegungen zusammengebracht werden müssen. Betrieblichen Auseinandersetzungen einen gesellschaftspolitischen Rückenwind zu geben und soziale Bewegungen zu einer stärkeren Durchsetzungsperspektive zu verhelfen, muss das Ziel sein. DIE LINKE kann hier eine wichtige Scharnierfunktion ausüben. Dass es ver.di und der Fridays-for-future-Bewegung gelungen ist, gemeinsame Aktionen in der Auseinandersetzung um den Tarifvertrag Nahverkehr zu initiieren, hat auch damit zu tun, dass wir als Partei sowohl innerhalb von ver.di als auch bei FFF verankert sind und die Debatte mit diesem Fokus verstärken konnten. Hinzu kommt: ver.di in NRW hatte sich vorgenommen tausende Stammtischkämpfer*innen für die Initiative „Aufstehen gegen Rassismus“ auszubilden. Und bei den Streiks bei Amazon finden regelmäßig antirassistische Aktionen statt. Diese „Kollektivierung von Kämpfen“ sollten wir als Partei noch stärker voranbringen und als gemeinsame Perspektive herausstellen.
Dazu braucht es auch eine stärkere Verankerung in den Gewerkschaften. Bislang sind wir zwar in einigen Gewerkschaften vertreten und haben dort auch zum Teil linke Vernetzungen. Trotzdem fehlt uns als Partei eine Struktur und ein Diskussionsraum, der uns hilft, die strategischen Einschätzungen von Partei und Gewerkschaften miteinander zu verzahnen. Das Konzept der BAG Betrieb & Gewerkschaft, das vom Parteivorstand im März 2021 beschlossen wurde, sieht die Gründung von Gewerkschaftsräten auf Bundes- und Landesebene ebenso vor wie einen regelmäßigen Dialog von Partei- und Gewerkschaftsspitzen. Außerdem soll in einem dritten Schritt ein jährlicher Gewerkschaftsratschlag zentrale Fragestellungen der Gewerkschaftsbewegung aufgreifen und aktive Gewerkschafter*innen in eine gemeinsame Diskussion bringen. Dieser gewerkschaftspolitische Dreiklang ist inzwischen auf der Bundesebene und in einigen Landesverbänden Beschlusslage und kann nun umgesetzt werden.
Unterm Strich bleibt festzustellen: Bei der Bundestagswahl ging es für viele Menschen nicht um die eine oder andere Unzufriedenheit mit dem einen oder anderen Thema, sondern um die ganz große politische Frage: Wohin steuert unsere Gesellschaft? Es kann angesichts der politischen Rahmenbedingungen davon ausgegangen werden, dass der dringend notwendige ökologische Umbau der Gesellschaft zu Lasten der geringen und mittleren Einkommen gehen wird und viele Menschen enttäuscht werden, die jetzt auf ein echtes Umsteuern in Sachen Klimawandel oder soziale Gerechtigkeit hoffen. Die Auswertung der Wahlergebnisse sollten wir daher im Bewusstsein der historischen Situation vornehmen, in der wir uns befinden. In sozialen, ökologischen, friedenspolitischen und demokratischen Entwicklungen steht die Gesellschaft vor irreversiblen Kipppunkten. DIE LINKE muss zum Pol der Hoffnung werden und zu der politischen Kraft, die den Unterschied macht und das Erreichen der Kipppunkte real verhindern kann.
Jana Seppelt ist stellvertretende Vorsitzende der Partei DIE LINKE und Mitglied im Bundessprecher*innen-Rat der AG Betrieb & Gewerkschaft sowie Gewerkschaftssekretärin bei ver.di.
Jan Richter ist Mitglied im Vorstand der Partei DIE LINKE und Mitglied im Bundessprecher*nnen-Rat der AG Betrieb & Gewerkschaft.
Ulrike Eifler ist stellvertretende Landessprecherin von DIE LINKE in NRW und Mitglied im Bundessprecher*innen-Rat AG Betrieb & Gewerkschaft.
Nils Böhlke ist Mitglied im Landessprecher*innen-Rat AG Betrieb & Gewerkschaft NRW und Gewerkschaftssekretär bei ver.di
Die Analyse erschien als Gastbeitrag im „der Freitag“
(Image by reginasphotos from Pixabay)