von Ralf Krämer, 24. Februar 2019 (Foto: Dirk Anhalt; CC BY-NC-SA 2.0)

Der Parteitag und die Aufstellung der Kandidatinnen und Kandidaten der LINKEN für die Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai zeigte eine in vielen Fragen politisch gespaltene und orientierungslose Partei. Am deutlichsten wurde das sicherlich am Kernthema des Parteitags, dem Verhältnis zur Europäischen Union. Hier trafen grundsätzliche Ablehnung der EU, Kritik der EU mit der Perspektive ihrer grundlegenden Umgestaltung mit neuen Verträgen, Orientierungen auf Reformen im Rahmen der bestehenden EU und weitgehend unkritische Pro-EU-Haltungen aufeinander.

Erschreckend war aus meiner Sicht vor allem der hohe Anteil von Genossinnen und Genossen, darunter besonders viele Jüngere und aus dem Osten, die ein „europäisches Lebensgefühl“ mit ungehinderten Reisemöglichkeiten beschworen und daraus ein Bekenntnis zu „mehr Europa“ ableiteten. Welche reale ökonomische und politische Bedeutung und Struktur die EU hat, als neoliberales Projekt im Interesse des international operierenden Groß- und Finanzkapitals, darüber scheinen bei vielen kaum Kenntnisse und daran scheint wenig Interesse zu bestehen. 44 Prozent der Delegierten stimmten für Anträge des FDS, die die Perspektive einer „Republik Europa“ beschworen, die die bestehenden Nationalstaaten ablösen sollte. Dass funktionierende Demokratie in diesem Rahmen kaum möglich wäre und die große Mehrheit der Menschen in Europa das ablehnt, auch weil es faktisch eine deutsch bestimmte Republik wäre, spielte keine Rolle.

Bereits im Vorfeld des Parteitags hatte es vor allem Auseinandersetzungen um die drei Wörter „militaristisch, undemokratisch und neoliberal“ im Wahlprogrammentwurf des Parteivorstands gegeben. Diese drei Vokabeln führen bei einigen anscheinend dazu, dass die Fähigkeit zum genauen Lesen erheblich beeinträchtigt wird. Und zwar auf beiden Seiten. Die einen finden es unerträglich, dass die Worte „militaristisch, undemokratisch und neoliberal“ in Zusammenhang mit der EU genannt werden, die anderen tun so, als sei die EU pauschal so bezeichnet worden. Das war aber gar nicht der Fall. Sondern da stand, dass für einen Neustart der EU diejenigen Vertragsgrundlagen revidiert werden müssen, die militaristisch, undemokratisch und neoliberal seien.

Auf der Parteivorstandssitzung eine Woche vor dem Parteitag ist als Kompromiss zur Beruhigung und Versachlichung der Diskussion diese Formulierung geändert worden, bei nur zwei Gegenstimmen. Die neue Formulierung verzichtet auf diese Reizworte, aber in der Sache ist sie m.E. sogar inhaltlich weitergehend in ihrer Kritik bzw. den Anforderungen an eine Veränderung der EU. Der neue Text lautet: „Die Europäische Union braucht einen Neustart. Dabei müssen alle vertraglichen Grundlagen revidiert werden, die zu Aufrüstung verpflichten und auf Militärinterventionen orientieren, die Anforderungen demokratischer Gestaltung entgegenstehen, und die neoliberale Politik wie Privatisierung, Sozialabbau oder Marktliberalisierung vorschreiben.“ M.E. wird damit die gegenwärtige Verfasstheit der EU sehr grundlegend angegangen, schließlich ist die Marktliberalisierung der neoliberale Kern des EU-Binnenmarktes, so wie er bisher gestaltet ist.

Auf dem Parteitag wurde der Text dann durch Änderungsanträge etwa der AG Betrieb und Gewerkschaft und friedenspolitisch in einigen Punkten noch verbessert, in anderen Punkten wurde die EU-kritische Haltung leider aufgeweicht.

Leider ist es aber den EU-phorischen Kräften um Gregor Gysi gelungen, die Medienberichterstattung vor und über den Parteitag stark in ihrem Sinne zu beeinflussen. Sie legten im Vorfeld ein kaum erträglich unkritisches und fachlich dürftiges Papier „Ja: Wir sind Europäerinnen und Europäer“ vor. Die Medien stellten die Veränderungen des Wahlprogrammentwurfs als Erfolg in ihrem Sinne dar, obwohl das vom Text nicht gedeckt ist. Ihre guten Kontakte zu den Medien und die fehlende Gegeninterpretation durch die Parteiführung boten dafür die Grundlagen. Die entsprechende Interpretation durch Teile der Parteilinken trug leider auch dazu bei, dass das gelingen konnte. Das Wahlprogramm wurde letztlich wie üblich mit wenigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen (darunter meine) beschlossen.

Schon in den vergangenen Jahren war sehr problematisch und kritisiert worden, dass die Parteitage die sonstigen Anträge überwiegend an Bundesausschuss oder Parteivorstand überwiesen haben. Diesmal war das noch extremer und traf alle Anträge. Besonders beschämend war, dass trotz der aktuellen Zuspitzung selbst ein Beschluss zur Solidarität mit Venezuela und gegen die imperialistische Einmischung in Lateinamerika nicht behandelt wurde, obwohl es dazu eine zwischen der AG Cuba Si und dem Parteivorstand geeinte Fassung gab. Dies zu beraten und mit voraussichtlich deutlicher Mehrheit zu beschließen hätte weniger lange gedauert als die mit dem Vorgehen verbundene Geschäftsordnungsdiskussion und persönliche Erklärungen. Es war von mindestens Teilen der Parteiführung offenbar nicht gewollt, dass so ein Beschluss zustande kam. Das zeigten auch einige unerfreute Reaktionen auf die von der Parteitagsregie nicht eingeplante schöne Solidaritätsaktion mit Venezuela während der Wahlprogrammberatung.

Auch die Beratung der dringlichen Anträge zur geplanten Verankerung einer Schuldenbremse in der Landesverfassung Brandenburg und zu Russland war offenbar nicht gewollt. Insgesamt ist seit etlichen Jahren eine Entdemokratisierung der Partei festzustellen, indem außer in der Form von kurzen Änderungsantragsdebatten zu Wahlprogrammen oder Leitanträgen inhaltliche Diskussionen und Entscheidungen auf Parteitagen nicht stattfinden. Auch der Parteivorstand wird aus vielen wesentlichen Entscheidungen herausgehalten und kann nur noch abnicken, was die Parteiführung entschieden hat, etwa zur Gestaltung von Wahlkampagnen.

Die an den Parteitag anschließende VertreterInnenversammlung zur Wahl der KandidatInnen für das Europaparlament verlief zunächst erwartungsgemäß. Dem Wahlvorschlag des Bundesausschusses wurde gefolgt, mit einer Ausnahme. Die von der SL besonders unterstützte Judith Benda, m.E. vielleicht die europapolitisch qualifizierteste und aus Kenntnis EU-kritische Kandidatin, wurde nicht gewählt. Daran hatten einige anscheinend ein erhebliches Interesse. Immerhin konnte sich der ebenfalls von uns unterstützte Ali Al Dailami auf Platz 6 durchsetzen – was auch auf Unterstützung durch vernünftige Teile des FDS zurückzuführen sein dürfte.

Insgesamt zeigt sich eine politische Entwicklung der LINKEN, die Besorgnis erregt. Die marxistisch geprägten sozialistischen, antikapitalistischen und auch antiimperialistischen Positionen des Grundsatzprogramms von Erfurt werden zunehmend beiseite gedrängt. Libertär und individualistisch linksbürgerlich geprägte Positionen sind stärker geworden. Als „links“ betrachten sie – und das prägt zunehmend auch das Bild in der Bevölkerung – nicht mehr in erster Linie Einsatz für soziale Gerechtigkeit und gegen Kapitalmacht, sondern für individuelle Rechte und Gleichstellung in den gegebenen Strukturen. Auf der anderen Seite artikuliert sich ein fundamentalistischer Linksradikalismus, der sozialstaatliche Errungenschaften und demokratische Einwirkungsmöglichkeiten sozialer Kräfte im Staat gering schätzt.

Die Parteiführung und „bewegungslinke“ Kräfte lavieren dazwischen und vernachlässigen bei ihrer Konzentration auf Kämpfe und Organisierung von unten die Bedeutung populärer Ansprache der Mehrheiten der Klasse, die sie damit nicht erreichen. Zudem unterschätzen sie die Macht der großkapitalistischen Oligarchien und neoliberalen oder neokonservativen Eliten in den Zentren des westlichen Kapitalismus und insb. der USA und die von ihnen ausgehende überragende Bedrohung für eine friedliche, förderliche und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaften.

Zugleich realistisch und radikale sozialistische Kräfte, für die die SL steht, geraten da zwischen die Stühle. Ein Hintergrund dafür ist auch, dass ein auf materialistischer politökonomischer Analyse fundierter politischer und klassenorientierter Marxismus hierzulande an den Hochschulen geradezu ausgemerzt wurde. Um so mehr ist ein innerparteilicher Zusammenschluss erforderlich, der solche Orientierungen systematisch in die Partei einzubringen versucht.

Ralf Krämer ist Mitglied des Parteivorstands und des SprecherInnenrates der Strömung Sozialistische Linke in der Partei DIE LINKE