Der Parteivorstand der LINKEN hat sich vor einigen Tagen auf Initiative der Vorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow in einem Positionspapier für einen Lockdown und eine Corona-Impfpflicht (als ultima ratio) ausgesprochen. Die Abstimmung über den konkreten Punkt Impfpflicht war im PV sehr knapp. Noch am Tag der Parteivorstandssitzung betonte die erfolgreiche LINKE-Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard aus Bremen, dass sie nicht glaube, eine Impfplicht sei das geeignete Mittel, um die Impfquote zu erhöhen.
Wir halten den Beschluss des Parteivorstandes für problematisch, weil er unnötigerweise spaltet. Denn wie die unterschiedlichen Auffassungen von Bernhard und Hennig-Wellsow zeigen, sind unsere Mitglieder und unsere Wählerschaft in dieser Frage nicht einer Meinung. So waren zwischen 24% (Umfrage von Civey) und 55% (infratest dimap) der LINKEN-Anhänger in den vergangenen Wochen gegen eine Impflicht. Die verschiedenen Ansichten zu dem Thema gehen quer durch die innerparteilichen Flügel und Gruppierungen. Dies gilt auch für die Forderung nach einem Lockdown, der – selbst wenn er unter der Überschrift einer „solidarische Notbremse“ läuft – Menschen unnötig verunsichern dürfte, die eine erneute Schließung von Schulen, Kitas u.a. ablehnen.
Ein PV-Beschluss wird an dem heterogenen Meinungsbild in unserer Partei wenig ändern, im Gegenteil. Der Versuch, solche strittigen Fragen einseitig per Gremiumsbeschluss aufzulösen, schadet der Gesamtpartei. Mehr Spaltung kann sich eine 4,9% Partei wahrlich nicht leisten!
Die Stellungnahme des Parteivorstands zu diesem Zeitpunkt ist auch deswegen zweifelhaft, weil sie von den Versäumnissen der Bundesregierung ablenkt und unser Profil als Oppositionspartei schwächt wie es bspw. auch der LINKE- Bundestagsabgeordnete Pascal Meiser bemerkt. Bei der Bewältigung des Pflegenotstands, bei der Impfkampagne, beim Schutz von Risikogruppen hat die Bundesregierung versagt. Immer noch werden die Patente der Impfstoffe nicht freigegeben, den Pharmakonzernen bleiben somit wahnsinnige Renditen garantiert. Eine Abkehr von der Profitorientierung und Kommerzialisierung im Gesundheitswesen ist von der Ampel-Regierung, die sich einer solidarischen Bürgerversicherung versperrt, am neoliberalen Modell der Fallpauschalen festhalten will und weitere Kliniken schließen und Pflegeheime an private Investoren veräußern wird, nicht zu erwarten.
Eine möglichst starke und geeinte Linke, die hier den Finger in die Wunde legt und an der Seite der Beschäftigten Verbesserungen erkämpft, wird dringend gebraucht. Warum hat der Parteivorstand nicht die Forderung nach Sofortmaßnahmen zur Rückgewinnung von Pflegekräften über Rückkehrprämien u.ä) in den Vordergrund gestellt – oder wenigstens erwähnt?
Wir sind uns bewusst, dass es zu Fragen des richtigen Umgangs mit der Pandemie und mit Gegner*innen der Corona-Maßnahmen zum Teil sehr weit auseinanderliegende Auffassungen gibt – auch innerhalb der Sozialistischen Linken. Schon letztes Jahr haben wir aber hierzu ein gemeinsames Papier verfasst, das wir in großen Teilen noch für aktuell erachten: [hier].
So verständlich der Wunsch ist, dass die Pandemie bald vorbei ist und so verständlich auch der Frust über ihr langes Fortdauern ist: Wir halten es für falsch, die Schuld an der Pandemie einseitig auf Ungeimpfte zu projizieren, sie gar pauschal als unsolidarisch o.ä. zu beschimpfen.
Wir sollten uns als LINKE vielmehr fragen, warum so viele Menschen kein Vertrauen mehr in die Corona-Politik der Regierung, in Institutionen des Gesundheitswesens, in die Sicherheit der verfügbaren Impfstoffe usw. haben. Denn die gegenwärtige Krise ist auch eine massive Vertrauenskrise, die auf jahrelanges Regierungsversagen, den Rückzug des Staates zugunsten einer neoliberalen Ellenbogengesellschaft, die sich vertiefende soziale Spaltung, eine Politik der Privatisierung und Kommerzialisierung und die wachsende Macht privater Lobbys (nicht nur) im Gesundheitswesen zurückzuführen ist.
Statt, dass an diesen Ursachen angesetzt wird, werden leider autoritäre Lösungen für die Krise immer salonfähiger. Wir befürchten, dass dies schlussendlich nur einem kleinen Kern von überzeugten Impfgegner:innen und rechten Zündlern in die Hände spielt. DIE LINKE sollte sich unserer Auffassung nach weiter für Aufklärung, Überzeugungsarbeit und niedrigschwellige Angebote einsetzen. Auf keinen Fall sollte wir mit dem erhobenen Zeigefinger auch noch den Verursacher*innen des gesellschaftlichen Vertrauensverlusts das Wort reden. Andernfalls werden noch mehr Menschen zu dem Schluss kommen, dass auch wir keine glaubwürdige Kraft gegen die herrschenden Verhältnisse sind, sondern höchstens ein mildes Korrektiv im politischen Zentrum.