Sozialistische Linke

von Bernhard Sander

Die Wahl in Niedersachsen hat gezeigt, dass DIE LINKE sich auf Landesebene im 5%-Bereich und bundespolitisch im <10%-Bereich festgerannt hat. Ihr sind überdies neue Wählerschichten zugeflogen, ohne dass sie strategisch einen Truppenaustausch beabsichtigt und vollzogen hat.

Das Protestmilieu ist auch in Niedersachsen von den „Anderen“, also im Wesentlichen den Piraten, zur AfD weitergezogen (In Niedersachsen 79.000 von 165.000, nur 7.000 gingen zur Linken; ein Drittel der AfD-Wähler kommen von den anderen). In NRW waren es 300 Tsd. der etwa 590 Tsd. Stimmen für die AfD; nur 10 Tsd. AfD-Stimmen kamen in NRW und in Nds. jeweils von der Linken.

DIE LINKE bleibt – wenn auch in vermindertem Ausmaß – ein relevanter politischer Ausdruck für die ausgegrenzten Armen. Die Linke hat in den lohnabhängigen Schichten erheblich an Einfluss verloren. Das hat etwas damit zu tun, dass sie die Lebenswirklichkeit des modernen Proletariats aus dem Blick verloren hat.

DIE LINKE hat – Erfolg ihres Sprechers – hinzugewonnen beim vorwiegend weiblichen Dienstleistungsproletariat in Pflege, Einzelhandel usw., soweit es Zugang zu gewerkschaftlicher Bildung und Aktivierung hat. Diese unteren Mittelschichten sind aber auch das erfolgversprechende Missionsgebiet der AfD.

DIE LINKE hat in NRW und in Nds. Erheblichen Zulauf von den Grünen und von der FDP bekommen, alles keine Parteien, die für ausgewiesenen Antikapitalismus bekannt sind sondern für gut verdienende akademische Verfechter der individuellen Freiheit. Sie ist Ausdruck humanitärer Empörung der besser gebildeten, großstädtischen Schichten geworden, die tendenziell auch unter Statusbedrohungen, Prekarisierung, Einkommensunsicherheit, Überarbeitung usw. leiden.

Welche allgemeineren Trends?

DIE LINKE sollte nicht auf die AfD wie das Kaninchen auf die Schlange starren. Die Entwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft nach rechts erfordert eine umfassende gesamtgesellschaftliche Analyse als die kleine Münze von der Partei, die vom Großkapital und dem Großbürgertum bezahlte Inszenierung zur Ablenkung der tumben Massen.

Mit dem Verlust der Glaubwürdigkeit des Neoliberalismus im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 wurden die materiellen Voraussetzungen geschaffen, dass sich bereits lange vorhandene Ressentiments und der sich verschärfende Kampf jeder gegen jeden politisch im Rechtspopulismus verdichten konnte.

Die SPD wie die europäische Sozialdemokratie insgesamt, ist gescheitert mit ihrem neoliberal inspirierten Ansatz, der vermeintlich entstandenen neue Mitte als weiterentwickelte eigene Basis hinterher zu kommen. Den Sozialdemokraten waren davor in den Jahren Kohls bereits Wähler weggelaufen oder weggeblieben. Das wurde fälschlicherweise als „Verbürgerlichung“, Trend zur Neuen Mitte und zum Postmaterialismus fehlgedeutet. Das Angebot von Mitterand, New Labour, Schröder/Blair-Papier, der Clinton-Demokraten usw. eine gemäßigte Deregulierung, Privatisierung und Propagierung einer Eigentümergesellschaft als sozialdemokratische Grundwerte umzudeuten, in Absetzung von den sozialdemokratischen Grundwerten einen dritten Weg bei der Gestaltung des Kapitalismus durchzusetzen, ging gründlich schief. Die Deregulierung der Arbeitsmärkte und der Umbau der sozialen Sicherungssysteme führen zu deren partiellen Entwertung und zu einem Zuwachs prekärer Arbeitsverhältnisse. Die SPD verliert sich bei ihren Alternativen in vielen kleinen Änderungsvorschlägen und verfügt über keine gesellschaftspolitische Gesamtkonzeption. DIE LINKE wiederum propagiert einen abstrakten Antikapitalismus und verliert sich zugleich in Regalmetern von Alternativen der Fachpolitik, in der die Grundideen und der Bezug zur Lebenslage der Adressaten nicht mehr erkennbar sind, wenn man nicht selbst über die nötige Expertise verfügt.

Die CDU geführten Regierungen mussten, um die Verhältnisse zu stabilisieren auf die geächteten Konzepte des Keynesianismus zurückgreifen (private Nachfragestabilisierung mit Abwrackprämie, Verhinderung von sozialer Verelendung in den Kernarbeitnehmerschichten durch Verlängerung des Kurzarbeitergeldes, öffentliche Investitionsprogramm, keine akuten Einschnitte in Sozialeinkommen). Sie entwertete so neoliberale Glaubenssätze, die sie gleichwohl weiter propagierte. Parallel wurde seitens der Bundesregierung weiter an einer undurchsichtigen Privilegienstruktur gezimmert (Steuerprivilegien für Hoteliers, Mütterrente usw.) Die Umgruppierung im bürgerlichen Lager ist keineswegs zum Stillstand gekommen; Leute wie Rutte in NL, Kurz in Österreich, Wauquiez in Frankreich übernehmen immer größere Teile der Rhetorik und Programmatik des Rechtspopulismus, ohne damit die Originale dieser Strömung politisch einhegen zu können.

Die wachsende soziale Polarisierung, das Gefühl, dass sich die individuellen Anstrengungen nicht mehr lohnen und die Zukunftsperspektiven der Kinder verbaut sind, sowie der Eindruck, dass die politische Klasse sich darum nicht kümmert, sind Gründe für den Aufstieg des Rechtspopulismus. Die sogenannte Flüchtlingsfrage konnte deshalb zum Katalysator für die Herauskristallisierung rassistischer usw. Ressentiments des parteiförmigen Rechtspopulismus werden, weil sich darin eine Reihe von Problemlagen bündeln: Die gläserne Decke in Kultur und Bildung, Aufstieg durch eigene Leistung blockiert, fehlende Anerkennung der eigenen Leistung, die Finanzmarkt getriebene Verrohung der industriellen Beziehungen, die auch den Beitrag der Kollegen unter Nützlichkeitsaspekten taxiert, im Co-Management kaum Abwehrmöglichkeiten, die wachsende soziale Spreizung, außenpolitisch der Bruch in der EU (ökonomische Hegemonialmacht Deutschland verteidigt Privilegien des Exportüberschusses auf Kosten ärmerer Länder) und in der NATO.

Drei Felder für DIE LINKE

Die Linke hat sich festgeritten in den eigenen ideologischen Grabenkämpfen, die nicht nur in ihrer besonderen kulturellen Ausformung abstoßend wirken.

Die Chronifizierung des Unterlegenheitsgefühls „Man kann ja doch nichts machen“ muss durchbrochen werden. Weil die Menschen das Gefühl haben, die Politiker haben nicht nur keine Alternative zum Weiterso, und sie sind von selbstsüchtigen Motiven getrieben statt von der Wahrnehmung sozialer Interessen (ihnen nur die Verteidigung von Privilegien vorzuwerfen ändert nichts, weil es dieses oben & unten schon immer gab), und die Politiker ignorieren damit auch die Ansprüche auf eine gesicherte Zukunftsperspektive, für sich und für die kommende Generation, nein bloß noch der eigenen Kinder, desto stärker wird nach Sündenböcken gesucht, die nicht hinten anstellen müssen in der Warteschlange („Den Flüchtlingen wird sofort geholfen“). Der Versuch Lafontaines hier anschlussfähig zu werden, indem er die Hierachisierung von Ansprüchen als soziale Gerechtigkeit legitimiert, und die Ignoranz des pauschalen „Refugees welcome“, die sich um die Forderung nach den notwendigen materiellen Voraussetzungen in Infrastruktur, Dienstleistungen usw. für alle nicht kümmert. Der Streit ist unfruchtbar und lähmend, verändert letztlich die Konfrontation in der Partei nicht. Es ist leider eine traurige Tatsache, dass die größten Integrationsleistungen den Menschen mit den heruntergekommensten Stadtvierteln, dem geringsten Verkaufswert ihrer Arbeitskraft, den größten Grundschulklassen usw. abverlangt werden – interkulturelle Kompetenz hin oder her.
DIE LINKE muss auch diesen Menschen wieder eine Perspektive geben, Herr des eigenen Schicksals zu werden. Selbst etwas machen zu können, nicht bloß als Kollektiv einer Klasse, was vollständig verloren gegangen ist. Erst im gemeinsamen Kampf um die kollektiven materiellen Voraussetzungen (Regulierung von Arbeitsverhältnisse, soziale Sicherungssysteme, Zugang zu Bildung und zu angemessenem Wohnraum) könnte sich Erkenntnis von Gemeinsamkeiten und modernes Klassenbewusstsein wieder herausbilden. Für DIE LINKE – wenn sie es denn ernst meint mit der Neufassung der Klassenfrage – geht es deshalb darum, auszutesten, wieweit sich die SPD nach dem Abgang von Schäuble aus der Deckung traut, um selbst der Ideologie der schwarzen Null entgegenzutreten und Spielräume zu nutzen, die gegenwärtig in Deutschland auch innerhalb der Grenzen der Schuldenbremse bestehen. Solche Investitions-Notwendigkeiten und Spielräume aufzuzeigen müsste Aufgabe der Linken sein. So bleibt beispielsweise der Kampf gegen Studiengebühren für ausländische Studierende mit dem Argument, dass sei strukturell rassistisch, zwar lobenswert aber unterkomplex, wenn nicht auch eine Kampagne für mehr Hörsäle geführt wird.
Mit dem Brexit und dem Sieg des Trumpschen „America first“ (Konfrontation mit Nordkorea, Iran, Ausstieg aus der Unesco usw.) wird die NATO massiver in Frage gestellt als mit jedem Grundsatzprogramm der Linken. Macron reagiert darauf mit außen- und militärpolitischen Vorschlägen, die man nicht begrüßen muss. Aber es fehlt eine europapolitische Konzeption, wie eine am Frieden orientierte Politik der Europäischen Union konkretisiert werden könnte. Die sich anbahnende Verständigung der bürgerlichen Kräfte auf eine gemeinsame europäische Armee und ihre Fähigkeit zur Intervention an jedem Platz der Erde sind eine Herausforderung. Die alten anti-imperialistischen Formeln zur Verteidigung Russlands heben sich kaum von der AfD ab, die versucht durch plumpen Antiamerikanismus die Deutschtümelei zu stärken (weil gegen die Unzivilisiertheit des asiatischen Russen anschließend viel einfacher zu polemisieren sein wird).

Die SL hätte mit ihren Thesen noch am ehesten die Möglichkeit, in der neuen Diskussion um Klassen Ansätze zu entwickeln, wie die Widersprüche von Individualitätsansprüchen, Zwängen des modernen Produktions- und Entscheidungssystems im Kapitalismus, Mängeln und Entwicklungsrückständen des begleitenden Sozialstaats aufzuheben sind. Hier steht sich DIE LINKE mit ihrer ideologisch verkarsteten Identitätspolitik selbst im Wege; sie kämpft z. B. feministische Emanzipationskämpfe, die längst erledigt sind. Sie greift die realen Widersprüche nicht auf (z. B. Bedürfnis nach 24-Std. Kitas).