Alex Demirović begründet, warum Klassenauseinandersetzungen und die vielfältigen Emanzipationskämpfe verbunden werden müssen.

Der Erfolg autoritär-populistischer PolitikerInnen und ihrer Kritik an Globalisierung, an ArbeitslosigkeitundUnsicherheit haben zu einer neuen Aufmerksamkeit für die Klassenfrage geführt. Bestärkt wurde das durch Diskussionen über das Buch „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon. In der Debatte wird der Eindruck erweckt, als habe die Linke in den vergangenen Jahren die soziale Frage aus den Augen verloren und sich nur noch für Anerkennungs- und „Identitätsfragen“ engagiert, also für Fragen der geschlechtlichen und sexuellen Emanzipation oder der Bekämpfung von Rassismus und Nationalismus. Mit einer solchen Argumentation geht dann die Einschätzung einher, es handele sich um die Lebensweise eines globalisierten und großstädtischen, gut gebildeten Kleinbürgertums, das für neue Kommunikations- und kulturelle Alltagspraktiken offen sei, lifestylegerecht teure Bioprodukte konsumiere – aufgrund des eigenen bürgerlichen Lebensstils jedoch unter einem Wahrnehmungsverlust hinsichtlich der Lebenslage vieler Menschen leide.

Solche Teile des Kleinbürgertums gibt es. Aber es gibt auch jene, die in der Sozialforumsbewegung aktiv waren, sich für eine ressourcenschonende Postwachstumsgesellschaft einsetzen oder sich für Flüchtlinge engagieren. Vielleicht ist das Problem eher, dass die Linke dazu tendiert, in zwei Milieus auseinanderzufallen: die einen, die sich vor allem mit Fragen von Verteilung, Armut, Arbeitslosigkeit, Löhnen und Gewerkschaften beschäftigen, die anderen, die sich vor allem mit Fragen des Klimawandels, der Ernährungsgewohnheiten, der Emanzipation von der heterosexuellen Normativität und von Rassismus oder mit demokratischen Rechten befassen.

Die Linke tut sich keinen Gefallen, wenn sie Klassenpolitik und Identitätspolitik gegeneinander stellt und nicht deren innerem Zusammenhang nachgeht. Viele derjenigen, die sich angeblich nicht für Verteilung, sondern nur für „Identitätsfragen“ interessieren, sprechen damit durchaus materielle Fragen an: Sexismus führt zur Benachteiligung von Frauen im Beruf und in Partnerschaften – sie werden auf bestimmte, vermeintlich frauentypische Kompetenzen festgelegt, schlechter entlohnt und finden häufiger nur prekäre Jobs. Auch Arbeiterinnen sind sexueller Belästigung ausgesetzt. Ob die Abtreibung von Krankenkassen übernommen und in Krankenhäusern durchgeführt wird, kann gerade für ärmere Frauen zur Schicksalsfrage werden. Der Rassismus ist die Grundlage für die Zerstörung ganzer Regionen oder für die Überausbeutung von Menschen. Die ökologische Frage, wie gesunde Ernährung, der Zugang zu sauberem Wasser, nachhaltige Energieerzeugung oder Mobilität, betrifft nicht nur ein vermeintlich saturiertes Kleinbürgertum, das auf die eigene schlanke Linie und seine Fitness achten muss. Auch die ArbeiterInnen sind betroffen, wenn es um den sicheren Arbeitsplatz ohne Gesundheitsrisiken, Lärm- und Luftbelastung, die medizinische Versorgung oder die Qualität der Lebensmittel geht. Auch ArbeiterInnen leiden unter konventionellen Familienformen oder Geschlechteridentitäten als Mann oder Frau und damit verbundenen Verhaltenserwartungen, auch unter ihnen gibt es Schwule, Lesben oder Transmenschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung gemobbt oder nicht eingestellt werden, staatliche Verfolgung oder (medizinische) Gewalt erfahren. Alle diese Momente des Lebenszusammenhangs der verschiedenen Gruppen der Lohnabhängigen sollten nicht voneinander isoliert werden. Sonst besteht die Gefahr der Verengung des Verständnisses von Klasse und falscher Spaltungslinien.

Es wäre auch falsch sich die ArbeiterInnenklasse als Einheit vorzustellen. Zwar sind alle Mitglieder der ArbeiterInnenklasse Teil des gesellschaftlichen „Gesamtarbeiters“ (so der Begriff von Marx im „Kapital“). Das kann ein Anknüpfungspunkt für Gemeinsamkeiten darstellen. Doch eine gemeinsame Identität und gemeinsame Handlungsperspektiven ergeben sich nicht gleichsam wie von selbst aus den Produktionsverhältnissen. Denn die Einzelnen und Gruppen, aus denen der Gesamtarbeiter zusammengesetzt ist, orientieren sich ganz unterschiedlich in ihren Lebensweisen und Weltauffassungen: beruflichen, betrieblichen Gründen, aufgrund von Geschlecht und familiärer Arbeitsteilung, nationaler Herkunft, Alter, Bildungsstand, formellem Erwerbsstatus und Beschäftigungsperspektive, Qualifikation, konkreter Tätigkeit und Einkommen, Betriebsgröße und Stellung in der Hierarchie, religiöser Bindung, Organisationserfahrungen und Kampftraditionen oder Zugehörigkeit zu Organisationen wie Gewerkschaft oder Partei.

Der Gesamtarbeiter umfasst viele Menschen, die über den Globus verstreut gemeinsam an der materiellen Produktion des Lebens teilnehmen. Aber diese Gemeinsamkeit steht ihnen unter privatwirtschaftlichen Bedingungen nicht zur Verfügung. Die Linke existiert nicht willkürlich, sondern antizipiert die sich ihrer Gemeinsamkeit bewusste Menschheit. Die verschiedenen Strömungen, die konkreten Formen der ArbeiterInnenbewegung und der sozialen Bewegungen gehen aus diesem widersprüchlichen Prozess der Organisation des Gesamtarbeiters hervor. Sie entstehen organisch aus den historischen Notwendigkeiten heraus, die eine Vielzahl sehr heterogener Menschen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen, Lebensformen und Einstellungen veranlassen, Freiheit gewinnen zu wollen, indem sie ein Kollektiv bilden, das in der Lage ist, gemeinsam zu handeln und gemeinsam zu Entscheidungen über die Gestaltung des gemeinsamen Zusammenlebens zu gelangen. Große Teile der historischen Linken haben sich allerdings oft darauf beschränkt, bestimmte Formen der Industriearbeit, wie Schwerindustrie und verarbeitende Industrie (Bau, Bergbau, Metall, Chemie, Textil), in den Mittelpunkt zu rücken. So entstand ein bestimmtes, naturalistisches Verständnis von materieller Reichtumsproduktion, in deren Zentrum die schwere körperliche Arbeit stand. Sie wurde über lange Zeit von den Gewerkschaften und von den Parteien der Arbeiterbewegung zum Hauptbezugspunkt gemacht. Andere Formen der Arbeit, die zumeist von Frauen erbracht wurden, wie Hausarbeit, erzieherische Tätigkeiten, Pflegearbeit und fürsorgliche Eigenarbeiten, fanden nur am Rande Beachtung.

Die Linke hat auch zu wenig wahrgenommen, wie Macht- und Herrschaftsverhältnisse die ArbeiterInnenklasse selbst durchziehen und prägen. Marx spricht das im „Kapital“ sehr deutlich an: Die Männer verkaufen die Arbeit ihrer Frauen und Kinder, wie wenn diese Sklaven wären – und dennoch bezieht er das Geschlechterverhältnis, die generative Reproduktion und damit das ganze Feld bürgerlicher Einwirkungen auf die ArbeiterInnen durch Moralisierung der Familie und Sexualität nicht in seine Betrachtung ein. Historisch war die ArbeiterInnenklasse kaum jemals nur ‚national‘ zusammengesetzt, immer wurden auch migrantische Arbeitskräfte eingesetzt. Indem einem Teil der ‚eingeborenen‘ und städtischen ArbeiterInnen eine Aufsichtsfunktion, ein Kommando über die Arbeit der anderen, bessere Bezahlung, bessere Wohnungen und Aufstiegsmöglichkeiten für die Kinder gewährt wird, wird die ArbeiterInnenklasse hierarchisiert und gespalten. Doch die Erfahrungen der vielen Formen von Andersheit, der vielen Identitäten und Lebensformen können auch eine bereichernde Erweiterung des Blicks darstellen – eine Erweiterung, die auf eine neue Form von Klassenpolitik zielen kann. Solch einer neuen Klassenpolitik ginge es nicht um eine Reduktion auf nur eine Gruppe von Lohnabhängigen – die Industriearbeiter, die Prekären – oder um die Festlegung auf eine gemeinsame Identität der Klasse, sondern vielmehr um die Perspektive einer neuen Produktions- und Lebensweise, um die komplexe Verknüpfung der verschiedenen Formen der Beteiligung an der gesamten gesellschaftlichen Arbeit. Dabei sind drei weitere Aspekte wichtig:

a) In der Geschichte der Linken wurde häufig der Fehler begangen, nach einem gemeinsamen Nenner zu suchen, der es erlaubt, verschiedene Interessen zusammenzubringen: die sogenannten „objektiven Interessen“. Doch diese Interessen können eben sehr unterschiedlich sein: sichere Arbeitsplätze, die Höhe der Löhne und gleiche Entlohnung bei gleicher Arbeit, kürzere Arbeitszeiten, die Pausen-, Überstunden- oder Urlaubsregelung, Qualifikation und Aufstiegsmöglichkeiten, Schutz vor Schikanen durch Vorgesetzte, einen geregelten Normalarbeitstag und Selbstbestimmung bei der Arbeit, die steuerlichen Belastungen, die beruflichen Perspektiven der Kinder, betreuungsbedürftige Angehörige, die privaten Beziehungen, die Entwicklung der Stadt oder der Region und viele andere. Nicht alle diese Ziele lassen sich in jeder Phase des Klassenkampfes zusammenbringen. Die Linke kann sich nicht von vornherein auf einen oder wenige Gesichtspunkte festlegen, von denen sie unterstellt, dass sie im gemeinsamen Interesse der Lohnabhängigen sind. Ein solcher Nenner existiert nicht als solcher, er kann nicht objektivistisch festgelegt werden, da im Kreislauf aller Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse ständige Verschiebungen der dominanten Widersprüche und Kämpfe stattfinden. Das heißt nicht, an der Objektivität von Klassen und ihren Interessen zu zweifeln, sondern ein anderes Verständnis von materieller Objektivität zu entwickeln. Die Objektivität besteht nicht allein aus der Stellung in den Produktionsverhältnissen und der Verfügung über die Produktionsmittel; die Objektivität kann nicht auf ökonomische Interessen und Marktpositionen reduziert werden. Klassen werden durch die Gesamtheit der ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse und in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt. Dieses Verhältnis ist in seiner Gesamtheit eines des Klassenkampfs. Klassen verkörpern demnach immer ein ganzes Bündel von Klassenpraktiken, die das Ergebnis vorangegangener Kämpfe und Kompromisse zwischen den Klassen sind. In diese gehen von vornherein staatliche Herrschaftspraktiken (von der gesetzlichen Gestaltung des Streikrechts, der Sozialpolitik bis zur Verfolgung linker Organisationen) und die Diskussion in Parteien oder Medien ebenso ein wie die Auseinandersetzungen um die Vergeschlechtlichung der Individuen, ihre Wohnformen oder ihre Essgewohnheiten.

Da die Lebensformen und Interessenlagen der Klasse sehr unterschiedlich sind und sich mit der kapitalistischen Dynamik ständig ändern, steht „Klassenpolitik“ vor der Herausforderung, nicht nur die Arbeit, sondern alle Aspekte der Lebensweise, der klassenspezifischen Praktiken der verschiedenen Gruppen der Lohnabhängigen in den Blick zu nehmen. Andernfalls setzt sich nur die Erfahrung einer ihrer besonderen Gruppen durch und verallgemeinert sich. Die Gefahr, dass dies zu Ausschließungen und Starrheit führt, liegt auf der Hand.

Entscheidend ist, welcher Aspekt des Lebens der ArbeiterInnen ihre Probleme zusammenfasst und repräsentiert, in welchem Symbol, welcher Frage, welchem Thema sie sich, ihre Probleme und Handlungsperspektiven wiedererkennen. Es geht also nicht um den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern darum, welche Themen, Konflikte, Entwicklungen zu einem Symbol für die vielen Probleme einer krisenhaften, verfehlten gesellschaftlichen Entwicklung und für die eigene ausgebeutete und beherrschte Lebenssituation werden. Solche Symbole können die Steuern, die Unfähigkeit der Politiker, die Ökologie, die Bildung, die Familie und das Geschlechterverhältnis – aber auch die Nation oder „die Ausländer“ sein.

b) Die Linke muss alle diese Aspekte im Blick haben und kritisch als Folgen der kapitalistischen Produktionsweise ansprechen. Sie muss deutlich machen, dass sie ohne Abstriche immer für gute Einzellösungen eintritt, es ihr aber auch um die Gesamttendenz der gesellschaftlichen Entwicklung und die Lösung einiger großer Probleme geht: In den letzten vierhundert Jahren wurden die Probleme der Naturzerstörung, des Rassismus, des Sexismus und der Reichtumsakkumulation bei Wenigen, die Belastung der Vielen durch körperliche Arbeit trotz zivilisatorischer Fortschritte immer wieder auf erweiterter Stufenleiter hervorgebracht. Dagegen hilft allein eine Änderung der Organisation des gesellschaftlichen Ganzen derart, dass alle gemeinsam an den wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungen teilhaben können. Klassenpolitik darf nicht dem Missverständnis aufsitzen, sich auf die Probleme einer besonderen sozialen Gruppe oder Klasse zu reduzieren, sondern im Gegenteil: sie muss sich anreichern mit all dem Wissen um die Herrschaft, Entwürdigung, Zerstörung in allen Lebensbereichen.

Der italienische Marxist Antonio Gramsci bezeichnet diesen gesellschaftlichen Zusammenhang als historischen Block. Dieser Block ist mehr als ein auf Formeln gegründetes Bündnis der verschiedenen subalternen Gruppen mit ihren spezifischen Lebensformen. Es geht dabei auch nicht um eine Radikalisierung und Ausdehnung spontaner betrieblicher Kämpfe, das Warten auf immer neue Demonstrationen oder größere Wählergruppen und Parteikoalitionen. Ein solcher Block kommt zustande, indem sich eine geteilte Sicht der Dinge, ein gemeinsamer Wille formiert, um die Gesamtheit der sozialen Beziehungen zu ändern. Aus der Perspektive der Linken bedeutet dies, für die Einsicht zu werben, dass die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen blockiert sind, solange die kapitalistische Produktionsweise herrscht. Solange die gesellschaftliche Arbeit durch anarchische Prozesse des Angebots und der Nachfrage am Markt gelenkt wird, sind die Möglichkeiten, die großen gesellschaftlichen Probleme zu lösen, eingeschränkt. Zu viele mächtige Interessen sind daran gebunden, eine solche Lösung zu verhindern.

c) Viele Menschen wollen nicht einer sozialen Klasse zugerechnet werden oder sich ihr zurechnen. Anders als im Fall der Zurechnung zu Geschlecht oder Nation, die den Menschen durch jahrhundertelange überlieferte und täglich erneuerte Herrschaftspraxis nahegelegt und von den Herrschenden selbst positiv besetzt werden, empfinden sie eine solche Zugehörigkeit offensichtlich als Zumutung. Sie nehmen für sich vorweg, was sich allein kollektiv und als gesellschaftliches Verhältnis erreichen lässt, nämlich die Überwindung von Klassen. Das ist das historische Ziel der sozialistischen Bewegung: „die Abschaffung der Klassen“ (Marx). Das Unangenehme der Klassenzugehörigkeit ist, dass es auf ein zwingendes Verhältnis verweist, die materielle Abhängigkeit von anderen und vor Augen führt, dass die Individuen trotz aller intellektuellen Kompetenzen, trotz der Freiheit und Gleichheit, trotz Demokratie einem übermächtigen Ganzen unterworfen sind, dem sie blind ausgeliefert sind, das sie nicht kontrollieren, das sie den anderen gegenüber entsolidarisiert. Es ist also eine Paradoxie: Die Linke steht vor der Aufgabe, für die Einsicht zu argumentieren, dass die Menschen einer Klasse zugehören, während sie doch gleichzeitig für die Abschaffung aller Klassen als ein maßgebendes Verhältnis zwischen Menschen eintritt – so wie es auch um die Abschaffung solcher die Individuen beherrschenden Identitätsformen wie ‚Rasse‘, ‚Nation‘ oder ‚Geschlecht‘ geht. Aber genau das ist die Herausforderung: ein um die verschiedenen Herrschaftsformen angereichertes, kritisches – nicht heroisches – Verständnis von ‚Klasse‘, um in der Verknüpfung mit anderen emanzipatorischen Tendenzen jenen Moment zu schaffen, von dem aus die Möglichkeit besteht, die Verhältnisse in Freiheit zu gestalten. Eine solche Hegemonieorientierung verpflichtet die Linke, sich nachdrücklich und langanhaltend, nicht instrumentalistisch und taktiererisch auf die verschiedenen Emanzipationsperspektiven einzulassen und an einem umfassenden Emanzipationsprojekt zu arbeiten. Die Linke sollte daran arbeiten, dass ein so erweiterter Begriff der ‚Klasse‘ und die freie, selbstbestimmte und kooperative Gestaltung und Lenkung der gesellschaftlichen Arbeit zum politisch-kulturellen Symbol werden, in dem die Menschen die Möglichkeit wiedererkennen, einmal zur Lösung der genannten Probleme zu gelangen.

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Alex Demirovic ist Professor für Politikwissenschaft und Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung mit Schwerpunkt marxistische Gesellschafts- und Staatstheorie.